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Der Schwerpunkt des Memoranda-Verlags liegt auf der Geschichte des SF-Genres. Das umfasst neben Biografien und anderen Sachbüchern auch die Neuedition klassischer Werke oder wie in diesem Fall die deutschsprachige Erstveröffentlichung eines Buchs, das seinerzeit untergegangen ist. Charles Platt, ein seit langem in den USA lebender Brite, hat Ende der 80er mit "Free Zone" einen veritablen Flop gelandet. Und er versteht bis heute nicht so recht, warum. Dann versuchen wir mal aufzudröseln, warum "Free Zone" zwar ein großer anarchischer Spaß ist, aber trotzdem kein zweites "Per Anhalter durch die Galaxis" wurde.

Der Schauplatz

Der Roman ist in der nahen Zukunft angesiedelt, genauer gesagt im damals noch ominös klingenden Jahr 1999. Die USA sind inzwischen ziemlich heruntergekommen, und für Los Angeles gilt das ganz besonders: Einige Stadtteile sind überflutet, andere von diversen fundamentalistischen Sekten durchsetzt. Doch mittendrin blüht ein kleines Punk-Paradies, in dem sich Tank Girl pudelwohl gefühlt hätte.

Eingeklemmt zwischen Autobahntrassen, ist die titelgebende Free Zone ein gerade mal 20 Quadratmeilen großes Stück Stadt, in dem man den "libertären Sozialismus" verwirklicht hat ("Keine Gurus, kein Gott, keine Regierung!"). Soll heißen: Hier kann im Prinzip jeder machen, was er will, solange er nicht die Kreise von jemand anderem stört. Das nötige Geld bringt – ganz zum Motto der Freizügigkeit passend – die Touristenattraktion Loveland ein, eine Art Disney World des Sex. Für ein allgemeines Stimmungsbild aus der Free Zone muss man eigentlich nur den ersten Absatz des Romans zitieren:

Heiligabend in der Free Zone: laute Musik, Konsum harter Drogen und Ficken in der Öffentlichkeit. Betrunkene Biker haben eine lebensgroße Weihnachtsmannpuppe mit einem Lasso eingefangen, sie am Hals vor die Stufen der Lieblingsjünger-Kirche geschleift, mit Kettensägen zerlegt und das Ergebnis des Zerstörungswerks in Brand gesetzt. Zeitgleich spielten in der heruntergekommenen Kirche weiß gewandete Punks Heavy-Metal-Oldies, dazu strippten androgyne Go-go-Girls unter den durch nahe Bombenexplosionen zerbrochenen bunten Kirchenfenstern und spritzten die Gemeinde mit Weihwasser aus einem gigantischen Gummipenis nass.

Das Ensemble

Armee-Veteranin Dusty McCullough hat die Free Zone einst gegründet und tut als deren inoffizielle Verwalterin alles, damit sie bestehen bleibt. Und das muss sie auch, denn mit Clarence Whitfield hat Dusty eine Art Westküsten-Rudy-Giuliani als Gegenspieler. Der skrupellose Bürgermeister von Los Angeles will das Stückchen Anarchie mitten in seinem Hoheitsgebiet unbedingt ausmerzen. Wie durchgeknallt er wirklich ist, erfährt seine Assistentin Roxanne, als sie durch einen Stromschlag für eine Moment telepathischen Einblick in sein Gehirn erlangt.

Weitere wichtige Protagonisten in dem insgesamt sehr großen Ensemble sind Dustys Liebhaber, der Hacker Thomas Fink, und die FBI-Agentin Janet Snowdon, die sich im Rahmen ihres verdeckten Einsatzes prostituieren muss. Und schließlich der Gentechniker Percival Abo: Nachdem man ihn und seine sprechenden Hunde aus Hongkong rausgeworfen hat, versucht er in der alles-erlaubenden Free Zone Fuß zu fassen.

Die Statisten

Und das waren jetzt nur die Durchschnittsmenschen. Weil Thomas mit seinem Teilchenbeschleuniger im Keller eine "temporale Singularität" erzeugt hat, strömen aber noch jede Menge ganz anderer Akteure in die Free Zone: Schleimige Aliens mit Appetit auf Menschenfleisch, die verblüffend an Kang & Kodos von den "Simpsons" erinnern. Ein Barbarenstamm aus dem Erdinneren und verstrahlte Mutanten aus der Wüste. Der Tyrann von Atlantis (ein Dinosaurier) samt Hofstaat und einer Armee von Riesenameisen. Ein Nazi-Wissenschafter aus einer alternativen Zeitlinie. Und last but not least 6A419BD5h, ein Roboter aus einer Zukunft, in der die Menschheit ausgestorben ist. Die Künstlichen Intelligenzen, die ihn in die Gegenwart geschickt haben, funktionieren übrigens exakt so, wie man sich bei Scientology den Aufbau des menschlichen Verstandes vorstellt – da hat Platt einige ziemlich gute Seitenhiebe eingebaut.

Von der Singularität angezogen wie die Motten vom Licht, kommen sie alle nun in der Free Zone zusammen und liefern sich mit Dustys Biker-Brigaden, den Milizen des Bürgermeisters und der Meute intelligenter Hunde eine Art Battle of the Fifteen Armies, die an Pulpigkeit kaum zu überbieten ist. "Passiert das hier alles wirklich?"

Was dahintersteckt

Um den Hintergrund von Platts Roman zu verstehen, muss man das Vorwort lesen, das einen hochinteressanten Einblick in die Entstehungsgeschichte von "Free Zone" bietet. Und andererseits die undankbare Aufgabe hat, eine Pointe zu erklären, die das Schwächste am ganzen Witz ist (und die eigentlich niemand braucht). Platt war seinerzeit offenbar von der damals schon alten New Wave of Science Fiction beeinflusst und interessierte sich für alles, was herkömmliches Storytelling aufbricht. Stichwort Metafiktion, Stichwort Thematisierung des Erzählaktes. Wer das gelesen hat und sich auf potenziell mühsame Lektüre einstellt, wird dann umso verblüffter sein, wie ... hoffentlich trifft Platt jetzt nicht der Schlag ... konventionell der Roman eigentlich erzählt ist.

Der Grund: Platt hatte die vermeintliche Königsidee, das metafiktionale Element auf die Art einzubringen, dass er vorab eine Liste der wichtigsten SF-Motive erstellte und diese dann der Reihe nach in den Roman einbaute, von der Zeitreise bis zur Radioaktivität. Eine vollständige Liste steht übrigens im Anhang. Aber hat er ernsthaft gedacht, dass irgendjemand das von selbst erkennen würde? Oder dass jemand, der das Prinzip vielleicht doch erahnt, mitzählen würde, ob auch nichts fehlt? Mir scheint, dass er den Lustgewinn, den Leser aus metafiktionaler Easter-Egg-Suche beziehen, gewaltig überschätzt. Darum wohl auch sein Unverständnis, dass "Free Zone" seinerzeit nicht wie eine Bombe einschlagen ist und mit seinem Werbeslogan "Alle wichtigen Science-Fiction-Motive in nur einem Band!" Genregeschichte geschrieben hat.

Der Plan hinter dem Roman war so raffiniert gedacht, dass sich Platt letztlich selbst ausgetrickst hat. Denn was unterm Strich bleibt, ist ein zwar unterhaltsames, aber auch etwas inkongruent wirkendes Werk. Im Kern ist es die durchaus ernste Geschichte einer freidenkerischen Gemeinschaft, die sich gegen das übermächtige Establishment zur Wehr setzt. Der politische Gehalt wird aber von all den grellen Pulp-Elementen unterlaufen, die trotzdem nicht ausreichen, das Ganze als reine Genre-Persiflage wahrzunehmen. Zu absurd, um ernstgenommen zu werden, und zu brutal, um humoristisch zu sein: "Free Zone" sitzt zwischen allen Stühlen. Und ein bisschen haben Platt zuletzt offenbar doch noch Selbstzweifel beschlichen: Keinem anderen Autor ist jemals gelungen, das zu tun, was ich tat – was allerdings daran liegen kann, dass keiner von ihnen jemals dumm genug war, es zu versuchen. Sie sahen schlicht nicht ein, warum.