Italienische Ultras auf dem Weg zu Protesten gegen Corona-Maßnahmen. Rechte Gruppierungen haben während des Lockdowns in Italien aber auch auf soziale Hilfsdienste gesetzt.

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Dass sich rechte Ideologien nicht mehr nur an den Rändern unserer Gesellschaft breitmachen, ist eine wissenschaftlich dokumentierte Tatsache. Fremdenfeindlichkeit, antidemokratische Überzeugungen oder der Glaube an diverse Verschwörungsmythen sind längst in der Mitte angekommen und bringen den demokratischen Boden zum Schwanken.

Neben den üblicherweise mit rechts und rechts außen assoziierten Fortschrittsverlierern finden sich auch immer mehr Akademiker, erfolgreiche Unternehmer und sozial engagierte Durchschnittsbürger in rechten Gruppierungen. Was ist die Ursache für diese weltweit zu beobachtende politische Entwicklung?

Die Kultur- und Sozialanthropologin Agnieszka Pasieka betreibt seit Jahren Feldforschung in rechtsextremen Netzwerken, vor allem in Polen, Ungarn und Italien, und kann darauf einige Antworten geben. "Wenn ich die Menschen frage, warum sie sich solchen Gruppen anschließen, höre ich oft: 'Weil ich dort gezielt bedürftigen Menschen helfen kann' oder 'Weil ich das Tierleid lindern möchte' etc."

Empathie und der Wunsch zu helfen als Motiv für den Eintritt in eine rechtsextreme Gruppe? Das klingt absurd, ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen. "Eine der zentralen Aktivitäten von Militanten ist, sich in Freiwilligenarbeit zu engagieren", sagt die polnischstämmige Wissenschafterin, die zurzeit als Stipendiatin des Elise-Richter-Programms des Wissenschaftsfonds FWF in Wien ihre Forschung betreibt. "In Polen unterstützen solche Gruppen beispielsweise Waisenhäuser und stellen zu Weihnachten oder Ostern Geschenkpakete für die Kinder zusammen."

Tierschutz und Fundraising

Auch in Italien bemühen sich die sehr gut organisierten rechtsextremen Gruppen, über soziale Aktivitäten in den Mittelstand vorzudringen. "Mit Tierschutzaktivitäten oder Fundraising durch Sport werden gezielt junge Menschen angesprochen", berichtet Pasieka.

Auch Hilfsaktionen für Italiener in Not, rechtliche Unterstützung oder regelmäßige Wanderungen in der Umgebung ziehen viele potenzielle Mitglieder an. "Mittlerweile", so die Wissenschafterin, "spricht man die Leute nicht mehr nur vor den Fußballstadien an, sondern auch vor Schulen."

Das ehrenamtliche Engagement sei oft der erste Schritt in eine rechtsextreme Gruppe. Ist dieser gesetzt, werden die Jugendlichen nach und nach mit den entsprechenden politischen Überzeugungen konfrontiert.

"Manche verlassen die Gruppe, wenn sie realisieren, dass diese Tierschützer faschistische und antisemitische Texte aus den 1930er-Jahren verteilen." Andere akzeptieren das und werden allmählich immer tiefer in die rechte Ideologie hineingezogen.

Neues Narrativ

Mit den breit kommunizierten humanitären Aktivitäten konterkarieren rechtsextreme Gruppen ihr altes Image vom hassgetriebenen Schlägertrupp und haben mittlerweile längst ein neues Gesicht für die Öffentlichkeit kreiert.

Gegenseitige Unterstützung und positive Zukunftsvisionen statt der alten Klagelieder von zornigen Ausgebooteten des Neoliberalismus. Hier wurde in den letzten Jahren ein neues Narrativ entwickelt und etabliert, das den Weg in die gesellschaftliche Mitte zweifellos noch weiter ebnen wird.

"Ein Gutteil der Anziehungskraft rechter Forderungen auf die gesellschaftliche Mitte besteht in der Möglichkeit sozialen Engagements in unterschiedlichsten Bereichen", fasst die Kultur- und Sozialanthropologin ihre Beobachtungen im "Milieu" zusammen. "Im Unterschied zu NGOs oder kirchlichen Organisationen, die auch Ausländern helfen, steht hier aber die Unterstützung der ‚eigenen Leute‘ im Vordergrund."

Gemeinschaftsgefühl

Viele junge Menschen fühlen sich zudem von den klaren Hierarchien rechtsradikaler Gruppen angezogen und von den eindeutigen Rollen, die sie hier einnehmen können. "Oft haben solche Gruppen einen fast sektenhaften Charakter", sagt Pasieka. "Die Mitglieder sind in eine Gemeinschaft integriert, ohne die kaum noch etwas unternommen wird." Für viele Jugendliche ist das ein verlockender Weg aus Isolation und Einsamkeit.

Die Konzentration der Hilfsangebote auf die eigenen Landsleute spiegle nicht zuletzt die tiefsitzende Angst vor dem sozialen Absturz. "Angesichts einer weitgehend gescheiterten EU-Flüchtlingspolitik und jahrelanger politischer Debatten, die den Schutz der Grenzen in den Fokus stellen, scheinen rechte Ideale vermehrt auf fruchtbaren Boden zu fallen."

Und welche Rolle spielt die rechtsextreme Szene in der "Querdenken"-Bewegung bzw. unter Corona-Leugnern und Anhängern von Verschwörungsmythen? "Die Corona-Krise hat gezeigt, wie divers diese Szene ist", sagt Pasieka. "Bei meinen Recherchen in Polen und Italien sind mir aber nur wenige Leute untergekommen, die Verschwörungsmythen verbreiten oder die Gefährlichkeit des Virus infrage stellen."

Allerdings protestieren viele Aktivisten gegen die Regierungsmaßnahmen. In Italien etwa starteten sie eine Kampagne zur Unterstützung lokaler und nationaler Geschäfte und werfen der Regierung vor, die heimische Wirtschaft "umzubringen". "Daran ist nichts spezifisch Rechtsextremes", sagt die Wissenschafterin. "Aber dieses strategisch kluge Framing hilft dabei, das neue Image als moderate Bewegung zu stärken, die die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nimmt."

Geschicktes Framing

Generell konnte Agnieszka Pasieka eine Intensivierung der Aktivitäten in allen von ihr untersuchten Gruppen während des ersten Lockdowns beobachten. In Italien wurden mehr Hilfspakete für Bedürftige verteilt, und dem überlasteten medizinischen Personal hat man Mahlzeiten in die Kliniken geliefert. In Polen haben rechtsextreme Gruppen Masken für das Krankenhauspersonal gekauft oder selbst produziert.

"Die Organisatoren wissen sehr genau, wie sie das Image der Gruppen optimal gestalten können", sagt Pasieka. Sie verstehen es, die sozialen Medien professionell zu nutzen, und durch die Mitarbeit zahlreicher Juristen lässt sich der Spielraum auf dem Boden der Legalität voll ausschöpfen.

Wenn sich viele, vor allem junge Menschen der rechtsextremen Szene zuwenden, weil sie sich engagieren und Gemeinschaft erleben wollen, stellt sich allerdings die Frage, warum sie sich dafür nicht stärker linken Gruppierungen zuwenden. "Diese haben sich wohl zu lange auf die Ausländerpolitik und die Bewegungsfreiheit in der EU konzentriert", vermutet Pasieka." Vielen jungen Leuten geht es heute aber mehr um die Möglichkeit, im eigenen Land zu arbeiten." Ein nachvollziehbares Anliegen in Ländern wie Polen und Italien, die mit extrem hoher Jugendarbeitslosigkeit und Massenauswanderung gut ausgebildeter Menschen konfrontiert sind – Faktoren, die auch die rechte Szene für sich nutzt. (Doris Griesser, 9.12.2020)