Boris Johnsons Erinnerungen an Brüssel dürften nicht sonderlich gut sein – vielleicht werden sie diese Woche verbessert.

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Von aller Brexit-Aktualität abgesehen – der Trip nach Brüssel diese Woche dürfte beim britischen Premierminister gemischte Gefühle und schmerzhafte Erinnerungen wachrufen. In den 1970er-Jahren – Boris Johnson besuchte als Sohn eines der ersten britischen EWG-Beamten die europäische Schule – ging in der belgischen Hauptstadt die Ehe seiner Eltern auseinander. Knapp 20 Jahre später zerbrach dort seine eigene erste Ehe. Kein gutes Omen also für ein freundschaftliches Ende im letzten Akt des seit Jahren andauernden Scheidungsprozesses zwischen dem zur EU gereiften 27er-Klub und Großbritannien.

Als schwebten ihm solcherlei Assoziationen zur eigenen Lebensgeschichte vor, übte sich der konservative Regierungschef am Dienstag in Tiefstapelei. Es werde "aus heutiger Sicht sehr, sehr schwierig" werden, die Verhandlungen über das zukünftige Verhältnis zwischen Insel und Kontinent zu einem glücklichen Ende zu bringen, teilte Johnson in London mit. Natürlich müsse man immer optimistisch sein und an die Macht der Vernunft glauben, aber: "Wir sind weit voneinander entfernt."

War dies nur die jüngste Szene einer meisterlichen Inszenierung, die am Ende doch in ein allseits befriedigendes Happy End mündet? Oder Ausdruck echter Besorgnis?

"Erhebliche Differenzen"

Den Besuch in Brüssel hatte Johnson am Montagabend beim Telefonat mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verabredet, dem zweiten direkten Kontakt des Duos binnen 48 Stunden. Es gebe weiterhin "erhebliche Differenzen" in den drei seit Monaten bekannten Streitpunkten, hieß es im gemeinsamen Kommuniqué: faire Konkurrenzbedingungen, das sogenannte "level playing field"; die Schlichtungsinstanzen bei zukünftigen Konflikten der Vertragsparteien sowie die Fischerei in der Nordsee und im Ärmelkanal.

Dass gegen Ende der monatelangen Gespräche die politische Führung auf beiden Seiten würde eingreifen müssen, stand längst fest: Und das Ende rückt unerbittlich näher: Wenn es nicht zur Einigung kommt, scheidet das im Januar ausgetretene Ex-Mitglied an Silvester im Chaos ("No Deal") aus der Übergangsphase aus, in der einstweilen noch die bisherigen Bestimmungen weitergelten.

Umstrittene Klausel fällt

Für einen Lichtblick sorgten am Dienstagnachmittag EU-Vizekommissionspräsident Maroš Šefčovič sowie der britische Kabinettsbürominister Michael Gove: Sie verkündeten den erfolgreichen Abschluss ihrer Gespräche über die praktische Umsetzung des sogenannten Nordirland-Protokolls. Der britische Teil der Grünen Insel verbleibt dem Austrittsvertrag zufolge im EU-Binnenmarkt, um die politisch sensible Durchlässigkeit der Landgrenze zur Republik Irland zu gewährleisten. Dadurch werden begrenzte Kontrollen im Handel zwischen Nordirland und der britischen Insel notwendig.

Die Einigung sei durch die "konstruktive und pragmatische Herangehensweise" der EU möglich geworden, sagte Gove in London. Automatisch sind damit jene Passagen im Binnenmarktgesetz hinfällig, mit denen sich die Regierung einen "begrenzten und spezifischen" Bruch des Austrittsvertrages und damit des Völkerrechts vorbehalten wollte. Diese Absicht hatte bei den Verbündeten, nicht zuletzt beim designierten US-Präsidenten Joe Biden, für Empörung gesorgt.

Ob auch dem Handelsvertrag bald ein erfolgreicher Abschluss beschert ist? Unverdrossen wiederholte der Premier am Dienstag seine alte Maxime, wonach die Insel "auf alle Fälle florieren" werde. Selbst erfahrene Johnson-Beobachter wagten keine Prognose darüber, was der 56-Jährige beim avisierten Trip auf den Kontinent erreichen will.

Heikles Timing

Zeitlich spricht manches dafür, das leidige Thema Brexit im Vorfeld des am Donnerstagnachmittag beginnenden EU-Gipfels hinter sich zu bringen; dann könnte sich Kommissionspräsidentin von der Leyen im Kreis der Staats- und Regierungschefs etwa dem ungeklärten Haushalt für die kommenden Jahre widmen. In London wird aber auch spekuliert, der Engländer werde sich erst nach dem Gipfel auf den Weg machen. (Sebastian Borger aus London, 8.12.2020)