Im Herzen Wiens war nach dem Ende des Lockdowns noch Platz. Eng wird es für viele Händler dennoch.

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Wien – Zu früh, viel zu früh haben die Händler hier alle wieder aufgesperrt. Schauen Sie sich das Getümmel an!" Es ist später Vormittag in Wien-Favoriten. Eine kleine Runde graumelierter Herren hat sich am Rande des Reumannplatzes auf einen heißen Punsch eingefunden, um über Corona im Allgemeinen und Einkaufen im Speziellen zu philosophieren. Natürlich wärme er sich an einem Kinderpunsch mit Ingwer, beeilt sich einer der drei zu betonen und schwenkt den Pappbecher wie zum Beweis. Alkoholausschank sei ja nunmehr verboten.

Spätestens im Februar schlittert Österreich in den dritten Lockdown, prophezeien die Männer, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Gesteckt voll sei es hier, seit Händler nach drei Wochen des Stillstands wieder öffneten. Ihnen selbst sei das Shoppen freilich nicht abgegangen. Er arbeite im Erdbau, erzählt einer. Vor sieben Uhr abends spiele es da eh keinen Feierabend. Ob er sich seinen Pullover einen Monat früher oder später kaufe, sei wurscht, fügt der andere achselzuckend hinzu.

Sehnsucht nach Fußball

Ihn schmerze weit mehr, bei keinem Fußballspiel mehr dabei sein zu dürfen. "Tausende Leute passen in ein Stadion. Da könnte man mit ein wenig Disziplin schon Abstand halten." Gar nicht zu reden vom Tennis, auf das er nun verzichten müsse. "15 Meter wären wir in der Halle voneinander entfernt." Der verhinderte Sportler wirft missbilligende Blicke in die wachsende Schar an Einkaufenden. Maske trägt er, anders als die meisten rundum, keine.

Der Weg über die Wiener Favoritenstraße offenbart am Dienstag jedoch kein einhelliges Bild. Schulter an Schulter stellen sich Kunden in winzigen Fastfoodlokalen um Asiafood an, drängen sich um rote Christbaumkugeln und wühlen in billigen Textilien. In Diskontmärkten wie Action bitten grellfarbene Shirts der Verkäufer um eineinhalb Meter Abstand. An den Kassen passt aber nicht einmal ein Zwergkarnickel zwischen die Wartenden. Vor den Regalen sorgen allein Kinderwagen für gesunde Distanz. Doch während hier viele Menschen wuseln, warten andernorts Händler vergeblich auf Kundschaft.

Warten auf Hilfe

"Sehen Sie die langen Menschenschlangen?" Ein junger Einzelhändler zückt sein Mobiltelefon und zeigt Fotos von Kunden vor der Drogerie Müller während des Lockdowns. Er selbst besitzt neben einem Stand für Mützen und Masken ein kleines Lebensmittelgeschäft. Einige Tage lang hielt er es im November offen. Dann gab er sich der übermächtigen Konkurrenz der Supermärkte geschlagen. "Alles haben diese weiterhin verkauft: Spielzeug, Elektrogeräte – obwohl es ihnen die Regierung verboten hat." Gut 10.000 Euro Umsatz habe er im November in Summe verloren, rechnet er vor. Für Kleine wie ihn sei das viel. Ersetzt habe ihm der Staat davon bisher nichts, die Bürokratie bereite ihm Kopfzerbrechen.

"Kein Fixkostenzuschuss, kein Umsatzersatz. Ich warte darauf immer noch", seufzt ein Uhrenhändler ein paar Ecken weiter. Nur jeweils zwei Kunden dürfen in seinen Shop. Viele hätten keine Lust, sich draußen anzustellen, und zögen daraufhin größere Anbieter vor. "Beschimpfen muss ich mich lassen, dass ich nicht mehr hereinlasse. Als ob ich die Regeln für Corona gemacht hätte."

"Gibt keine ideale Lösung"

In manchen Geschäften herrscht nahezu gespenstische Stille. Im April, nach der ersten Schließungswelle, ja da sei der Umsatz explodiert, erinnert sich die Verkäuferin einer Modeboutique. "Jetzt suchen die Leute nur noch das, was sie im Internet nicht finden." Kleidung gehört nicht dazu, meint sie und deutet resigniert auf ihre vollen Regale.

Ob sie lieber länger geschlossen hätte wie die Gastronomie? "Alles zu, alles auf: Es gibt in Zeiten wie diesen keine ideale Lösung. Nirgendwo." Die Frau zögert, erzählt dann leise von ihrem Großvater im Pflegeheim. Mit niemandem aus der Familie habe er mehr Kontakt haben dürfen. Jetzt habe er sich doch mit Corona angesteckt. Im Heim. "Er versteht die Welt nicht mehr. Alles ist schwierig geworden." Tränen steigen ihr in die Augen.

"Ausnahmsweise Alkohol"

Der Weg in die Messe in die Kirche am Keplerplatz führt an einem kleinen Lichtermeer an Kerzen vorbei. Die Kollekte wird von zwei Desinfektionssprays flankiert. Fast jede Holzreihe ist besetzt, wenn auch mit gebührendem Abstand. Vor den Kirchentoren am Rande der Stiege kreisen unter Obdachlosen Flaschen mit Hochprozentigem. Fetzen ihres Gesprächs sind weit über den Platz hin zu hören. Es geht um Corona.

Alkoholdunst zieht einem auch an anderer Stelle in die Nase. Müde Einkäufer stärken sich an einem aus dem Boden gestampften Punsch- und Würstelstand. "Ist hier wirklich noch Alkohol drin?", fragt man vorsichtig in die Runde. "Wir verkaufen nur mehr Kinderpunsch", erläutern die Verkäufer freundlich. "Aber wir können gerne was anderes dazuleeren. Ausnahmsweise."

"Werden uns umarmen"

Szenenwechsel, ein paar Kilometer weiter in der Wiener Innenstadt: "Wir werden uns wieder umarmen", prangt da über dem Graben im Herzen des ersten Bezirks in großen Werbelettern. Ob Alkoholverbot die Sehnsucht nach Nähe bremst? "Ehrlich jetzt?", fragt ein ansässiger Coiffeur, der auf erste Kunden wartet. "Die Leute bestellen sich Kinderpunsch und peppen ihn mit dem Obstler aus dem Flachmann auf." Ersterer sei im Übrigen nicht zu verachten, geradezu ein Geheimtipp. "Kinderpunsch muss schmecken, weil sonst quengelt der Nachwuchs, und dann ist Schluss mit lustig."

"Die Wiener haben sich im vergangenen Monat um den Glühwein versammelt, als ob nichts wäre", erzählt eine Verkäuferin mit Blick auf den Meinl am Graben. Beim ersten Lockdown im Frühjahr hätten sich die Leute noch zu Hause mit Vorräten eingebunkert. Sie selbst sitze seither auf einem Berg an Toilettenpapier, gesteht sie freimütig ein und lacht. Ihre aus Russland stammende Schwiegermutter habe sie vor der Rationierung der Lebensmittel und einer Rückkehr der Essensmarken gewarnt. "So weit ist es zum Glück nicht gekommen.

Des Jammerns müde

Der Friseur jedenfalls hat das Jammern vieler Kollegen über miese Geschäfte und magere Staatshilfen satt. "Erst wollen sie keine Steuern zahlen, und dann beklagen sie, dass sie zu wenig Geld bekommen." Dankbar müsse man sein, dass man überhaupt was erhalte. "In anderen Ländern sperrt in Krisen wie diesen die Hälfte der Betriebe zu."

"Es geht nicht darum, wie viel ich heuer verdiene. Es geht darum, ob es meinen Betrieb im nächsten Jahr noch geben wird", stellt die Besitzerin einer Schuhboutique nahe der Rotenturmstraße klar. "Denn meine Kunden sind im Homeoffice, wer, bitte schön, trägt da Schuhe?"

Menschenmassen wälzen sich seit Montag keine durch die Innenstadt. Seitengassen sind verwaist. Grabesstimmung herrscht gar im noblen Goldenen Quartier. Allein wer zu Louis Vuitton will, reiht sich in Schlangen ein. Am Graben findet ein alter Mann Zeit, um eine tote Taube zwischen Pappbechern und Brotresten aus einem ausgelassenen Brunnen zu fischen. Er wickelt sie sanft in Zeitungspapier ein und beerdigt sie in einem Mistkübel. (Verena Kainrath, 8.12.2020)