Ein unbescholtener 22-Jähriger muss sich im Großen Schwurgerichtssaal wegen dreifachen Mordversuchs verantworten.

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Wien – "Ich weiß, es ist übertrieben, was ich gemacht habe. Aber es wäre nicht passiert, wenn sie mich nicht angegriffen hätte", plädiert Angeklagter Alexandr P. vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Wolfgang Etl auf Notwehrüberschreitung und schwere Körperverletzung. Staatsanwältin Magdalena Lacher wirft dem 22-Jährigen etwas ganz anderes vor: dreifachen Mordversuch und absichtliche schwere Körperverletzung.

Der unbescholtene Handwerker war am 1. Juni, dem Pfingstmontag, aus Niederösterreich, wo er mit seiner Mutter wohnt, in die Bundeshauptstadt gekommen. Er hatte Termine: Schon tags zuvor hatte er mit drei Prostituierten, darunter zwei Transsexuellen, Treffen in deren Wohnungen vereinbart.

Geschenk angekündigt

Laut Anklage verlief das erste Treffen mit Frau C. zunächst nicht ungewöhnlich. Er zahlte 80 Euro "für Ficken und Blasen ohne Extras" und bekam die Dienstleistung. Als er am Gehen war, eröffnete er Frau C. laut deren eigener Aussage bei der Polizei, dass er ihr noch ein Geschenk geben wolle. Eine Überraschung. Die Frau drehte sich mit dem Rücken zu ihm und hielt sich die Augen zu – nicht ohne P. über einen Spiegel im Blick zu haben.

Statt eines Präsents habe er aus seinem Mantel aber ein Springmesser genommen – die Zeugin beschrieb es bei der Polizei als etwa zehn Zentimeter lang, mit spitzer Klinge. Die Frau schrie um Hilfe und drohte mit der Polizei, ehe der Angeklagte ging. Für die Anklägerin habe P. aber vorgehabt, sie zu erstechen, sie wertet es als ersten Mordversuch.

Das nächste Date verlief laut der Prostituierten noch seltsamer. Dort soll P. vor dem Akt nicht sein Geschlechtsteil aus der Unterhose geholt haben, sondern laut Zeugin eine Barbie-Puppe mit schwarzen Haaren, mit der er spielte. Da ihn Menschen im Garten störten, zog er dann unverrichteter Dinge wieder ab. Die Staatanwältin vermutet auch hier einen Mordversuch.

100 Euro, um massieren zu dürfen

Gegen 15 Uhr erschien der Angeklagte dann bei Frau L. und vereinbarte zunächst eine halbstündige Massage für 100 Euro. "Was für eine Massage?", fragt Vorsitzender Etl die 34-jährige Zeugin. "Eine erotische Massage"; hört er als Antwort. "Dann hat der Angeklagte aber gesagt, er sei Anfänger und wolle zunächst mich massieren", erzählt die Frau weiter, Sie habe sich daher im Schneidersitz mit dem Rücken zu ihm zwischen seine Beine gesetzt.

"Einmal habe ich mit der linken Hand nach hinten gegriffen und ihm am Oberschenkel gestreichelt, er nahm aber meine Hand weg und sagte: ,Nein, wir haben noch Zeit, wir machen das später.'" Dazu kam es nicht mehr – plötzlich schnitt ihr P. von hinten in den Hals. Laut der damals im Badezimmer befindlichen Freundin von L. habe diese "Todesschreie" ausgestoßen. 24 Schnitte und Stichverletzungen in Gesicht, am Kopf, am Hals und am Rücken konnte der gerichtsmedizinische Sachverständige Wolfgang Denk später zählen.

Neunstündige Notoperation

L. konnte aus dem Wohnzimmer flüchten, draußen kam ihr ihre Freundin zu Hilfe, die von P. in den linken Oberarm gestochen wurde. Gemeinsam rannten sie aus der Wohnung und retteten sich blutüberströmt zu einer Nachbarin. Die Notoperation von L. dauerte neun Stunden, danach wurde sie in künstlichen Tiefschlaf versetzt. Wohl für immer hat sie Narben im Gesicht, laut ihrer Aussage leide sie auch an einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Angeklagter P. erzählt völlig andere Geschichten. Er habe am Pfingstsonntag im Internet nach Prostituierten gesucht und sie kontaktiert. Die Transsexuellen habe er nicht wirklich gesucht, "das ist einfach passiert. Die waren auch auf der Seite", lässt der Tscheche übersetzen. Der Vorsitzende mag das nicht recht glauben: "Was gefällt Ihnen an Transsexuellen?", fragt er daher. "Ich fand sie interessant", antwortet der Angeklagte. "Warum?" – "Sie sind anders. Irgendwie in einem falschen Körper gefangen." – "Finden Sie das anziehend oder abstoßend?" – "Ich habe überhaupt keine sexuelle Anziehung zu ihnen."

Messer und Plüschtiger

Den Besuch bei der ersten Frau kommentiert P. so: Er habe ihr einen Plüschtiger schenken wollen, als er den aus dem Mantel nehmen wollte, habe er zunächst sein Messer herausgenommen. Aufgeklappt habe er es aber nie, er wisse nicht, wieso die Frau plötzlich Angst bekommen und ihn der Wohnung verwiesen habe.

Auch hier ist Etl misstrauisch. "Wieso haben Sie das Messer herausgenommen? Das spürt man ja in der Tasche, und Sie wussten ja, dass Sie es mithaben, da Wien so eine gefährliche Stadt ist." P. kann keine wirkliche Antwort geben. Denn, wie er Staatsanwältin Lacher später erklärt, die Waffe habe er mitgehabt, damit "bei einem Überfall mit einem Messer die Kräfte gleich sind". Sein Verteidiger Anton-Alexander Havlik argumentiert dagegen, für seinen Mandanten sei als Handwerker ein Messer ein Alltagsgegenstand. Was wiederum Beisitzer Andreas Böhm anzweifelt: Ein Springmesser mit einer Sieben-Zentimeter-Klinge sei eher kein übliches Arbeitsmittel.

Plüschtiger statt Barbie-Puppe

Die Barbie-Puppe in der Unterhose beim zweiten Treffen bestreitet der auffällig monoton sprechende und leicht lächelnde Angeklagte. Er wollte den Plüschtiger übergeben, behauptet er. "Sie sagen, die Zeugin hat das erfunden?", wundert sich der Vorsitzende. "Sowas erfindet man doch nicht!", ist Etl überzeugt. P. bleibt bei seiner Version. Er sei dann wieder gegangen, da es in der Wohnung gestunken habe und die Menschen im Garten so laut gewesen seien.

Auch der Besuch bei Frau L. verlief seiner Darstellung nach völlig anders. Zunächst sei eine normale Massage vereinbart gewesen, dann wollte doch er sie massieren. Während dieser Tätigkeit habe sie ihm immer wieder auf die Genitalien gegriffen, was er nicht wollte. Zuletzt habe sie ihn schmerzhaft in die Hoden gekniffen. Er dachte offenbar an einen Angriff, daher habe er sein Messer aus der Hosentasche geholt und sich gewehrt. Ab der Hodenquetschung habe er aber leider einen Filmriss, könne daher keine weiteren Details liefern. "Ich war in Panik und hatte mich nicht ganz unter Kontrolle", bedauert P. nun.

Schwarzer Gürtel in Taekwondo

Die Berufsrichter zweifeln an der Notwehrsituation. Erstens ist P. 1,87 Meter groß und wiegt 84 Kilo, während Frau L. auf 1,65 und 70 Kilo kommt. Zweitens besitzt P. den schwarzen Gürtel in Taekwondo und war in diesem Kampfsport auch bei internationalen Wettkämpfen erfolgreich. Beisitzer Böhm stellt eine naheliegende Frage: "Warum haben Sie nicht in die Hand auf ihren Genitalien gestochen, sondern einen Halsschnitt gemacht?" – "Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, welche Körperteile ich berührt habe in der Panik", sagt der Angeklagte dazu.

Der psychiatrische Sachverständige Peter Hofmann erstattet ein "Alternativgutachten", wie er den Geschworenen erklärt. Dabei geht es nicht um einen Aluhut, sondern die Meinung der Laienrichter. Wenn sie P. die Geschichte mit der Notwehrüberschreitung glauben, hat der Angeklagte auch keine psychische Störung.

Maligner Narzissmus möglich

Wenn die Geschworenen allerdings meinen, P. habe die drei Frauen ermorden wollen, sehe die Sache anders aus. Dann habe es sich um eine hochsadistische Tat gehandelt und der Angeklagte sei brandgefährlich und müsse, obwohl eindeutig zurechnungsfähig, in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen werden. Denn es sei damit zu rechnen, dass er zum Serientäter werden würde, ist Hofmann überzeugt. Dass P. unbescholten sei und als nett und unauffällig beschrieben werde, spiele da keine Rolle: "Maligner, also bösartiger Narzissmus muss nicht vorher in Erscheinung treten. Durch Untersuchungen von Serientätern weiß man auch, dass diese oft Familien haben. Sie leben quasi mit einer doppelten Buchführung."

P. sei bei den Gesprächen aber sehr verschlossen gewesen, daher könne er keine sichere Diagnose stellen, schränkt der Sachverständige ein. Auf die Frage eines Berufsrichters, was es mit der Barbie-Puppe auf sich habe, antwortet Hofmann daher, darüber könne er nicht einmal spekulieren, da P. ja bestreite, dass es das Spielzeug gibt. Ein Fetisch sei zwar denkbar, aber eben reine Spekulation.

Da der Verteidiger nicht mit der Verlesung der Aussage der Frau vom ersten Treffen einverstanden ist, sondern sie persönlich im Gerichtssaal haben will, muss Etl auf den 19. Jänner vertagen. (Michael Möseneder, 10.12.2020)