Nach der Razzia im Muslimbrüder-Milieu tauchen Vorwürfe auf. Manche Kinder von beschuldigten Eltern seien traumatisiert.

Foto: APA/ BMI

Wer hätte gedacht, dass es um eine Razzia gegen angebliche Muslimbrüder und Hamas, bei der 930 Einsatzkräfte in Österreich im Einsatz waren, seitens der Politik so schnell ruhig werden kann? Den letzten Kommentar von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) dazu gab es Mitte November. Mittlerweile sichten die Ermittler das sichergestellte Material, darunter unzählige Computer, Laptops und Handys.

Sie müssen nun prüfen, ob sich die schwerwiegenden Vorwürfe der terroristischen Vereinigung, der Terrorismusfinanzierung, der Geldwäscherei, der kriminellen Organisation und der staatsfeindlichen Verbindungen durch die Staatsanwaltschaft gegen die 70 Beschuldigten erhärten. Rund 60 Hausdurchsuchungen fanden in der Steiermark, in Niederösterreich, Kärnten und Wien statt.

Anhand der Durchsuchungsanordnung lässt sich das jedenfalls noch nicht hinreichend begründen. Diese besteht aus zig Seiten Geschichte über die islamistische Muslimbruderschaft und die terroristische Hamas im Allgemeinen, vagen Verdachtsmomenten, deren Inhalt sich oft wiederholt, und den Aussagen eines anonymen Hinweisgebers, dessen Ausführungen übernommen worden zu sein scheinen. Aus den Dokumenten geht nicht hervor, warum dieser einen Person eine derart zentrale Rolle zukommt. Dazu will die Staatsanwaltschaft nichts sagen.

In nur drei Tagen

Bemerkenswert ist auch, dass die Anordnung zur Razzia innerhalb von drei Tagen auf den Weg gebracht wurde. Eingebracht wurde sie vom zuständigen Staatsanwalt am 14. Oktober. Bereits am nächsten Tag bewilligte das Grazer Straflandesgericht das 185-seitige Konvolut. Am 16. Oktober unterzeichnete der Staatsanwalt die Anordnung zur Durchführung der Razzia, die seit circa eineinhalb Jahren vorbereitet wurde. Konnte dieser komplexe Sachverhalt samt Protokollen aus der Telefonüberwachung vom Straflandesgericht innerhalb eines Tages kontrolliert werden? Dazu sagt die Staatsanwaltschaft, dass das Straflandesgericht als Bewilligungsinstanz ständig in das Verfahren eingebunden ist.

Die Causa wird wohl auch in absehbarer Zeit für Außenstehende nicht klarer werden. Der Akt der Staatsanwaltschaft soll zwar wesentlich dicker sein. Doch der Akt bleibt vorerst Verschlusssache. Die Anwälte der Beschuldigten haben keinen Zugriff darauf. Nicht einmal die Gutachten der Sachverständigen sind für die Verteidigung greifbar.

Eine vorsichtige Drohung

Der Grazer Rechtsanwalt Wolfgang Schlegl brachte Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein. Die fehlende Akteneinsicht verletze den Grundsatz der "Waffengleichheit". Weder für seinen Mandanten noch für ihn als Verteidiger sind die Vorwürfe der Behörden damit ausreichend nachvollziehbar. "Den Verteidigern wurde ein Maulkorb auferlegt", sagt auch der Rechtsanwalt Richard Soyer.

In dieselbe Kerbe stößt deren Kollege Andreas Schweitzer: "Einen Verschlussakt zu machen ist an sich ein legitimes Mittel, wenn der Verdacht naheliegt, dass es zu Verschleierungstaktiken kommen könnte, wenn alle Dokumente bekannt sind", sagt er. "Dass es aber für alle Beschuldigten keine Akteneinsicht gibt, ist ein starkes Stück – vor allem wenn die Beweislast sehr dünn, aber die Vorwürfe sehr schwer sind." Wenn sich alle Verteidiger wegen des Verschlussakts beschweren, müssten beim Staatsanwalt die Alarmglocken läuten. Ansonsten sei eine Anzeige wegen Amtsmissbrauchs durchaus denkbar, sagt Schweitzer vorsichtig.

An sich fehlt Schlegl im Fall eines Beschuldigten, den er vertritt, jeglicher strafrechtlicher Anfangsverdacht. Jenem ehemaligen Vorsitzenden der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Graz und Funktionär der Liga Kultur, die ebenfalls im Zentrum der Ermittlungen steht, wird vorgeworfen, Kontakte zu mutmaßlich nationalen und internationalen Muslimbrüdern zu halten und in Österreich an Veranstaltungen der Gruppierung teils in führender Rolle teilgenommen zu haben. Das ist für Schlegl nicht strafrechtlich relevant, sein Klient sei auch in der Lage, jeden Kontovorgang zu erklären: "Die Ermittlungsanordnung trägt meines Erachtens den gefährlichen Charakter eines ‚Gesinnungsstrafrechts‘."

Angesichts der vagen Verdachtsmomente kommt Kritik in puncto Verhältnismäßigkeit der Razzia auf. Die Hausdurchsuchungen dürften relativ martialisch abgelaufen sein.

In der Szene heftig diskutiert wird zudem, ob die Kinder der Beschuldigten durch die Razzia Traumata erlitten hätten. Ein Erlebnisbericht eines Kindes, in dessen Wohnung eine Hausdurchsuchung stattfand, liegt dem STANDARD vor. Menschen hätten "keine Bewegung" und "auf den Boden" geschrien, heißt es darin. Als das Kind die Augen aufgemacht habe, sei jemand "mit einer großen Waffe" vor ihm gestanden und habe gerufen: "Zielperson gesichtet." Nach etwa fünf Minuten sei jemand gekommen und habe gesagt, dass der Polizist nur zum Schutz da stehe. Das Kind sei jetzt bei einer Therapeutin in Behandlung, sagt Sabrina Fuchs-El-Bahnasawy vom "Islamischen Beratungsnetzwerk für Jugend und Familie", das auch mit der IGGÖ kooperiert.

Beschwerde wegen Verletzung

Doch es finden sich auch Unstimmigkeiten bei den Erzählungen: Im Interview mit der Presse behauptete der Wissenschafter Farid Hafez, ein Beschuldigter, dass die Polizei bei der Hausdurchsuchung Fenster eingeschossen hätte. Dem Innenressort ist dazu nichts bekannt. Ebenso wenig der Staatsanwaltschaft.

Zumindest eine Maßnahmenbeschwerde wegen etwaiger Unverhältnismäßigkeit der Hausdurchsuchung ist beim Landesverwaltungsgericht anhängig. Einer seiner Mandanten wurde durch die grobe Behandlung durch die Polizei verletzt, sagt Rechtsanwalt Farid Rifaat. Dass der Beschuldigte wenige Stunden nach der Hausdurchsuchung eine Verletzung im Brustkorb aufwies, bestätigt zumindest auch ein Krankenhausprotokoll. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, 11.12.2020)