Mehr als 25 Jahre nach Inkrafttreten des Richtwertsystems sollte man eigentlich meinen, die genaue Definition eines Gründerzeitviertels sei erledigt. Dass dem aber nicht so ist, zeigt ein kürzlich veröffentlichter OGH-Entscheid vom August.

Zur Vorgeschichte: Ein Mieter war gegen den von seiner Vermieterin verrechneten Lagezuschlag vor die Schlichtungsstelle gezogen. Das Zinshaus im fünften Bezirk, in dem sich seine Wohnung befand, sei nämlich überwiegend von anderen Gründerzeithäusern umgeben, und laut Richtwertgesetz ist in einem solchen Fall kein Lagezuschlag erlaubt.

Gründerzeit, Kategorie D

Das Richtwertgesetz definiert ein Gründerzeitviertel folgendermaßen: Eine "Lage (Wohnumgebung)" ist dann höchstens als durchschnittlich einzustufen, wenn der Gebäudebestand überwiegend in der Zeit von 1870 bis 1917 errichtet worden war und im Zeitpunkt der Errichtung überwiegend kleine, mangelhaft ausgestattete Wohnungen (Kategorie D) aufgewiesen hat.

Der Lagezuschlag ist, sofern er erlaubt ist, zumeist ein nicht unwesentlicher Bestandteil der Richtwertmiete in Wien.
Foto: Istockphoto/CHUNYIP WONG

Die Schlichtungsstelle entschied im Sinne des Mieters, doch deren Entscheidung wurde von der Vermieterin nicht akzeptiert, der Fall landete vor Gericht. Vor dem Bezirksgericht Innere Stadt bekam der Mieter in erster Instanz neuerlich recht. Die Hauptmiete dürfe 362,79 Euro pro Monat nicht überschreiten, so das Gericht. Denn 61 der 72 Gebäude im Prüfgebiet stammten aus der Gründerzeit. Die Hoffnungen der Vermieterin ruhten aber ohnehin auf einem anderen Aspekt, nämlich der Regelung zur Ausstattung. Denn "nur" 35 der 61 gründerzeitlichen Wohngebäude wiesen zum Zeitpunkt ihrer Errichtung "überwiegend", also zu mehr als der Hälfte, Substandardwohnungen auf. Die Frage, die sich die Vermieterin (und ihr Anwalt) nun stellten: Gilt die Regelung zu den Substandardwohnungen nicht im Verhältnis zum gesamten Gebäudebestand im Prüfgebiet (72) und nicht nur zum gründerzeitlichen Bestand (61)? Mit dieser Betrachtungsweise wäre ihr ein Lagezuschlag von 2,42 Euro je Quadratmeter zugestanden, das wären bei der 62 m² großen Wohnung ziemlich genau 150 Euro mehr Miete pro Monat gewesen.

OGH bestätigte Ansicht

Doch das Landesgericht für Zivilrechtssachen sah die Sache genauso wie das Erstgericht: Das Kriterium des "Überwiegens" von Kategorie-D-Wohnungen beziehe sich nur auf den gründerzeitlichen Bestand, nicht auf den Gesamtbestand. Abzustellen sei konkret darauf, ob von den noch vorhandenen in der Gründerzeit errichteten Häusern der überwiegende Teil zum Zeitpunkt der Errichtung nur Substandardwohnungen aufgewiesen habe. Das sei hier – wenn auch durchaus knapp – der Fall.

Weil das Landesgericht einsah, dass die Rechtsansicht der Vermieterin durchaus begründet war, landete der Fall vor dem OGH. Und dieser bestätigte die bisherigen Urteile, zum nicht geringen Erstaunen etwa des Wohnrechtsexperten Christoph Kothbauer, der den Fall jüngst in seinem Newsletter aufgriff. Er hält die Entscheidung für "höchst zweifelhaft". Bei der Mietervereinigung freut man sich naturgemäß über die Bestätigung der eigenen Rechtsansicht. "Diese Entscheidung hilft uns in ähnlichen Verfahren sehr", sagt die Wiener Landesvorsitzende Elke Hanel-Torsch zum STANDARD. (Martin Putschögl, 15.12.2020)