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Der generische Titel! Eine Meisterdiebin als Hauptfigur und ein magischer Schlüssel als zentrales Objekt! Und dazu noch der Hinweis, dass es sich bei diesem Roman um den Auftakt einer Trilogie handelt! Nichts, aber auch wirklich gar nichts davon hätte mein Auge auf der Suche nach origineller Fantasy einfangen können. Mein Blick war daher schon im Abschweifen, als ein Detail ihn plötzlich eine Vollbremsung einlegen ließ: Das Ganze stammt von Robert Jackson Bennett, dem Autor der fantastischen Trilogie "Die göttlichen Städte". Dem habe ich tatsächlich zugetraut, auch aus einem vermeintlichen 0815-Szenario etwas Lesenswertes zu machen – und diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht.

Wie die Welt funktioniert

Geglückt ist es Bennett durch das, was traditionell in der Fantasy als, nun ja, Schlüsselelement gilt: ein überzeugendes Magiesystem. Und das ist hier wirklich etwas Besonderes. Ein Blurb von Dan Wells im Einband gibt den entscheidenden Hinweis: "Die beste epische Fantasy des Jahres ist auch der beste Cyberpunk des Jahres." Das bedeutet jetzt aber nicht, dass es sich um verkappte Science Fiction handelt und die Figuren mit Computertechnologie hantieren, die sie mangels Verständnis halt als Magie bezeichnen – so simpel ist es nicht.

Aber die Magie funktioniert eindeutig auf Basis von Informationsverarbeitung und -austausch. Das wird spätestens dann klar, wenn wir sehen, wie es der titelgebende Schlüssel – ein denkendes und sprechendes Artefakt mit Namen Clef – schafft, Schlösser zu knacken: Er plappert sie in Grund und Boden. Anders ausgedrückt, er flutet sie mit derart vielen Informationen, dass sie schließlich zu verwirrt sind, um ihre Schließfunktion weiter ausüben zu können.

Skriben lautet das entscheidende Stichwort. Dabei handelt es sich um Symbole respektive hochkomplexe Symbolfolgen, die leblosen Objekten angeheftet werden, um sie dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun (ähnlich wie beim Golem, dem man einen Zettel mit dem Namen Gottes unter die Zunge legt). Diese Skriben verändern die Realität nicht direkt, aber sie gaukeln dem Objekt eine bestimmte Wirklichkeit vor. Räder beispielsweise rollen auch ohne Antrieb ewig weiter, weil sie "glauben", dass es bergab ginge. Andere Skriben schaffen es sogar, den Effekt der Quantenverschränkung auf Makro-Objekte zu übertragen.

Gelehrte, die funktionale Skriben entwerfen können, sind also de facto Programmierer, aber der IT-Charakter von Bennetts Magie schimmert auch an anderen Stellen immer wieder durch. Einmal begegnen wir etwa einer Entität, die ganz dem Charakter einer starken Künstlichen Intelligenz entspricht. Und wenn sich die Hauptfigur einmal mit dem Vorwurf konfrontiert sieht: "Sancia, du solltest dich mehr für die Sprachen interessieren, die alles um dich herum antrei[ben]" ... dann ist das praktisch 1:1 der Satz, den sich heutige Computeranalphabeten gerne mal von Code-versierten Zeitgenossen anhören müssen.

Sancia und der Rest

Doch Sancia Grado interessiert sich für Skriben nur so weit, wie sie zu bedienen sind. Obwohl sie selbst eine im Kopf hat und diese ihr eine recht zweischneidige Fähigkeit verleiht: Sancia kann die "Wahrnehmungen" und "Erinnerungen" von Objekten, die sie berührt, in sich aufnehmen. Praktisch, wenn man sich gewissermaßen wie ein Lauschprogramm in die physische Welt hacken kann. Weniger schön allerdings, wenn man es nicht abstellen kann. Und so führt Sancia als zwangsweise Asketin ein Leben in größtmöglicher Reizdeprivation, damit ihr nicht das Gehirn durchbrennt.

Für ihren Lebensunterhalt lässt sie sich als Diebin engagieren. Doch als sie für einen unbekannten Auftraggeber ein besonders wertvolles Objekt stehlen soll, misslingt ihr ein Ablenkungsmanöver und sie brennt versehentlich den halben Hafen der Stadt nieder. Das setzt Hauptmann Gregor Dandolo von der Wasserwacht auf ihre Spur. Der stammt eigentlich aus noblem Hause, folgt aber lieber seiner eigenen Mission: Gerechtigkeit. Mit seinem Moralkodex erinnert Gregor mitunter ein wenig an Kommandant Mumm aus Ankh-Morpork – Regeln sind ihm überaus wichtig, und zu Gewalt greift er nicht gerne (aber wenn, dann methodisch). Tief in ihm schlummert allerdings ein düsteres Geheimnis; wie übrigens in Sancia auch.

Wenn sich die beiden so unterschiedlichen Charaktere unvermeidlicherweise zusammenraufen, um all denen zu trotzen, die sich besagtes Objekt unter den Nagel reißen wollen, dann scheint man es auf den ersten Blick mit dem klassischen Odd Couple von Freigeist und Konformist zu tun zu haben. Stimmt so aber nicht ganz. Sancia ist ganz eindeutig die alleinige Hauptfigur. Erst mit einigem Abstand folgen die übrigen Protagonisten, sei es Gregor, der sprechende Schlüssel Clef oder der zu cholerischen Anfällen neigende Skriben-Meister Ignacio Orso. Das Zusammenspiel dieser Charaktere sorgt aber für Humor, und dass die Geschichte durchgehend mit einem Schuss Ironie erzählt wird, garantiert vergnügtes Schmökern.

Modernisiertes Mittelalter

Neben der IT-Magie und dem alles andere als hehren Umgangston der Protagonisten enthält der Roman aber noch ein drittes modernistisches Element. Sein Hauptschauplatz, der Stadtstaat Tevanne, ist das Ebenbild eines schwachen Staats, wie ihn SF-Autoren gerne in ihren Nahzukunftsszenarien beschreiben. Die Macht liegt nicht bei einer Zentralregierung, stattdessen schnapsen sich vier große Handelshäuser untereinander aus, wo's lang geht. Ihre Campos liegen als quasi-autonome Einheiten mitten im Stadtgebiet. Es sind blitzsaubere Konzernwelten mit funktionierender Infrastruktur und allen Annehmlichkeiten – aber nur für die jeweiligen Mitarbeiter. Wer außerhalb der Campos in den Gemeinvierteln wohnt, haust im Elend. Und auch die bekannte Praxis, die Produktion in andere Länder zu verlagern, wo die Löhne fast so niedrig sind wie die Menschenrechtsstandards, wird in Tevanne fleißig gepflegt.

Nach "Die göttlichen Städte" jubelt uns Robert Jackson Bennett also einmal mehr mit ausgeklügeltem Worldbuilding ein paar brisante Fragen zum Gefüge unserer eigenen Welt unter. Geschickt getarnt hinter einer Handlung, die auf Spannung und diesmal auch eine größere Dosis Humor setzt. Das einzige Manko von "Der Schlüssel der Magie" habe ich schon im ersten Absatz genannt: Es ist der Auftakt einer Trilogie und endet deshalb mit einem Cliffhanger. Hoffentlich dauert es bis zum Erscheinen von Band 2 nicht allzu lange.