Richard Schuberth, "Bus nach Bingöl".
€ 21,– / 276 Seiten.
Drava-Verlag, Klagenfurt 2020

Foto: Drava

Der Flughafen Sabiha Gökçen im asiatischen Teil von Istanbul (internationaler Code: SAW) ist nach einer Frau benannt, von der wahrscheinlich nicht allzu viele der dort startenden und landenden Passagiere Genaueres wissen. In Richard Schuberths Roman Bus nach Bingöl wird diesem Versäumnis gleich am Anfang abgeholfen: Sabiha Gökçen – "die erste Frau in der Türkei, die aus der Luft Kurden tötete".

Damit ist eines der Themen des Buches benannt: die Rolle der Kurden in der Türkei, die Spannungen zwischen einem Volk, das mit seinen Forderungen nach Autonomie oder gar einem eigenen Staat im Vierländereck zwischen der Türkei, Syrien, Irak und Iran immer wieder auf Repressionen trifft, und den vielfältigen Gesellschaftsmodellen, in die sich die Kurden integrieren sollen. Die Sache wird noch komplizierter dadurch, dass der "Held" des Romans, Ahmet, in Wien lebt und die Kurden, denen er sich zugehörig fühlt, für ein "erfundenes Bergvolk" hält.

Gleichwohl macht Ahmet sich auf den Weg nach Bingöl, sein Heimatdorf. Vom Flughafen aus nimmt er einen Bus, in dem schon einmal wesentliche Teile der Geschichte spielen. Denn die Passagiere ergeben einen interessanten Querschnitt durch die Türkei in der ersten Phase der Erdoğanisierung. Der Roman spielt im Jahr 2008, also zu einer Zeit, in der durchaus Hoffnungen auf einen Ausgleich mit den Kurden bestanden. Die Geschehnisse in der Türkei seit dem Putschversuch 2016 sieht Schuberth in einer Vorbemerkung als einen Prozess "der endgültigen Umwandlung des Landes in einen autokratischen Staat". Damals wurde ihm bewusst, dass der Roman, der auf zwei Erzählungen aus dem Jahr 2007 beruht, "zu Ende geschrieben werden musste".

Rituale, Lieder und Träume

Die Orte der Handlung sind erfunden, lassen sich aber relativ genau lokalisieren. Ahmet fährt in das Dorf Holike, gelegen in einer Berglandschaft namens Dersim, mit der sich deutlich eine Ursprungsmythologie verbindet. Hier ist die Kultur noch geläufig, zu der Ahmet zumindest für eine Weile zurückkehren will: eine alevitische Kultur, in der es auffällt, wenn der Name Allah fällt, obwohl man sich offiziell mit den sunnitischen oder sogar schiitischen Nachbarn in gutem Einvernehmen befindet; eine Kultur mit Liedern, Träumen, dem besten Pilz der Welt (dem Kinkori), mit einem Sehnsuchtsgipfel, dem Düzgün Baba, und einem Ritual, das Ahmet unbedingt noch einmal erleben will, einem Cem, der dann auch tatsächlich in einem Kranich-Tanz gipfelt.

Mit hintergründigem Humor beschreibt Schuberth, wie sich ein Intellektueller, der eigentlich in Wien auf Distanz zu den Konstruktionen der Kurden als "Indianer" gegangen war, in der Welt seiner Kindheit allmählich verliert – oder wiederfindet. Kitschig wird das nie, dazu sind sowohl Ahmet wie auch sein Erzähler zu reflektiert. Bus nach Bingöl erzeugt aber durchaus so etwas wie einen magischen Realismus, seine schönste Ausprägung erhält er in der Figur eines Mädchens namens Xeycan, das Ahmet als Hirtin erscheint und die Leute mit poetischen Nonsensfragen konfrontiert: "Was ist vier Wolken minus drei Köfte?" Wer das ausrechnen kann, weiß vielleicht auch, wie man einen Konflikt beilegen kann, der die moderne Türkei seit ihren Ursprüngen begleitet. Denn in Dersim gab es auch eine starke armenische Bevölkerung. Und Schuberth geht mit seinem Roman wohl mit Bedacht an einen Ort, der geradezu als paradigmatisch transnational erscheint, oder besser vielleicht sogar: vornational. Bus nach Bingöl durchquert also nicht nur eine Landschaft, sondern auch die Moderne in ihrer ganzen Spannung, wie sie ein "Eselssohn" erlebt, der nach Wien zum Studieren geht. (Bert Rebhandl, 12.12.2020)