Betörend und verstörend: Clarice Lispector, im Schtetl in der Ukraine 1920 geboren, war schon zu Lebzeiten eine Legende.

Foto: Paul Gurgel Valente/Schöffling und Co

Zum Glück ist Chinesisch diffizil. Denn wäre der 1976 geborene Amerikaner Benjamin Moser, der in Utrecht in den Niederlanden lebt, nach wenigen Wochen des Studiums der chinesischen Sprache nicht so frustriert gewesen und noch frustrierter durch die Bemerkung seines Professors, er, Moser, würde erst nach geschätzt zehn Jahren seriös darangehen können, chinesische Literatur zu lesen, dann wäre er nicht zu einer einfacher zu erlernenden Sprache gewechselt, zu Portugiesisch.

Und dann wäre er wohl nie auf die Bücher Clarice Lispectors gestoßen. Und hätte nicht seine ausgreifende Biografie über diese brasilianische Autorin verfasst, die 2013 auf Deutsch erschien und die zwei Neuübersetzungen von Romanen Lispectors flankierte. Die drei Bände erschienen anlässlich des Gastlandauftritts Brasiliens auf der Frankfurter Buchmesse in jenem Jahr. Diese Schriftstellerin mit dem seltsamen Nachnamen, deren Vorname sich "Klarissi" ausspricht, ist seither vom Buchmarkt und von deutschsprachigen Verlagen wiederentdeckt worden, nach langen Jahren der Vernachlässigung.

Bedeutend und groß

Dabei war die 1920 in einem abgelegenen Schtetl in der Region Podolien in der Westukraine geborene – allzu gern machte sie sich in Selbstauskünften um fünf Jahre jünger – und am 9. Dezember 1977, einen Tag vor ihrem 57. Geburtstag, in Rio de Janeiro an Krebs verstorbene Autorin zu Lebzeiten nicht nur in Brasilien die bekannteste, von Mythen umrankte Dichterin ihres Landes. Auch die bedeutendste. Und die größte. Und die betörendste, wovon noch heute Fotografien zeugen, auf denen sich die schlanke sphinxartige Schöne effektbewusst mit Zigarette in Szene zu setzen wusste. Weshalb auch ihre Werke einst mehrere Jahre lang von den Verlagen Suhrkamp und Rowohlt betreut wurden; dann wurde es um Lispector rätselhaft stumm hierzulande.

Dabei spielte Deutschland einst eine entscheidende Rolle für ihre Familie. Die Gründe, weshalb die Lispektors (damals noch mit "k") in den frühen 1920er-Jahren die Ukraine verließen, waren handgreiflich: die grausamen Pogrome während der postrevolutionären Jahre. Clarices strenggläubiger Vater konnte die Familie aus dem jüdischen Ansiedlungsrayon nach Westen bringen, sie gelangten via Bessarabien nach Deutschland, die abenteuerliche Reise endete in Brasilien, in der Stadt Recife. Die Mutter, mehrfach auf brutalste Weise von russischen Soldaten vergewaltigt und infolgedessen unheilbar mit Syphilis infiziert, stand vor den Augen von Clarice und deren zwei älteren Schwestern jahrelang intolerable Schmerzen durch, an denen sie zugrunde ging. Clarice selbst wurde 1943 – da war sie gerade einmal 23 Jahre jung und hatte ein Jusstudium nicht beendet – mit ihrem Romandebüt Nahe dem wilden Herzen zur Sensation der Literaturszene. Sie, die Jüdin, heiratete jung einen katholischen Diplomaten, mit diesem lebte sie mehr als fünfzehn Jahre im Ausland, zuerst in Neapel, dann in Bern in der Schweiz, wo sie depressiv wurde, und in Washington, D.C.

Hochintensive Bücher

Sie bekam Kinder. Sie ließ sich scheiden, übersiedelte nach Rio de Janeiro und zog als Alleinerziehende ihre zwei Söhne auf, von denen der ältere bald unheilbar an Schizophrenie erkrankte. In Rio schrieb Lispector ihre kompositorisch anspruchsvollen wie hochintensiven Bücher, wurde als Kolumnistin berühmt, aber nie wohlhabend, wurde medikamentenabhängig und immer unkonventioneller. Bei einem Wohnungsbrand Ende der 1960er-Jahre wurde sie schwer verletzt, danach war ihre rechte Hand, ausgerechnet ihre Schreibhand, verkrüppelt, ihre Beine überzogen Narben. Im Jahrzehnt bis zu ihrem Tod rang sie ausdauernd um seelische Gesundheit, inklusive des ihr zuwachsenden sozialen Malus der Exzentrizität.

Einsam war sie, fordernd bis zum Extrem. So wie auch ihre Bücher es waren und sind, in denen sie formal, sprachlich wie inhaltlich aufs Ganze ging, in Die Passion nach G. H. (1963) etwa, in Der Apfel im Dunkeln von 1961 oder im posthum erschienenen Aqua viva, die heute allesamt zur Weltliteratur gehören.

Nichts konnte sie vom Schreiben abbringen oder abhalten, weder Geldsorgen noch Verlagsquerelen – Benjamin Moser, der als Herausgeber ihrer "Sämtlichen Erzählungen" fungiert, erwähnt in seinem Nachwort die Fragilität des brasilianischen Verlagswesens, was für Lispector bedeutete: Acht ihrer neun Romane kamen in unterschiedlichen Verlagshäusern heraus –, weder am Ende ihres Lebens Krankheit noch die ausdauernde Vergeblichkeit ihrer großen unerfüllten Lebensliebe, war doch der begehrte Mann homosexuell.

Das Erstaunliche an Lispectors Prosa, dank Luis Rubys exzellenter Übertragung hervorragend nachzuvollziehen, ist, dass sie jedem platten Vergleich ausweicht. Als ignoriere sie, die weithin und gründlich Belesene, ein Halbjahrhundert avantgardistischer Literatur. Das ist nicht "wie" Virginia Woolf, auch nicht "wie" Marguerite Duras, das ist weder magischer Realismus noch sind es kalt konstruierte Kopfallegorien à la Borges. Es ist weder Befindlichkeitsbelletristik und will gleichzeitig auch keine "schöne Literatur" sein.

Gewaltige Variationsbreite

Stattdessen: enorme emotionale Spannung und Spannweite, poetische Bilder, Erinnerungen und Echoräume, auch rasende Intensität, gewaltige Einsamkeit. Das zeigen noch stärker als Lispectors frühe und mittlere Romane, Der Lüster beispielsweise oder Nahe dem wilden Herzen, ihre Erzählungen. Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau enthält die Gehversuche, Anfänge und zeigt die Fort- und Hochentwicklung, in denen auffallend häufig Ich-Erzählerinnen sich in von Männern vorgegebene Rollen einfügen und leiden, so leiden wie ihre Kinder, aber nicht hilflos wie diese, sondern von Hass durchpulst. Oft sind es scheinbar alltägliche Ausgangskonstellationen, die sich ganz anders entwickeln, von Güte und Nachsicht in boshaftes Verhalten umkippen.

Dieses subtile, tiefenscharfe Hinschauen findet sich auch im zweiten Band, der die Geschichten ab 1971 enthält einschließlich einiger erst nach ihrem Tode publizierter. Hier ist die Variationsbreite noch gewaltiger, noch fragmentierter, noch uneinhegbarer und reicht von der kleinen Mutter-Sohn-Vignette über kafkaeske Traumirrwegfantasien bis zum faszinierend fein verästelten Sezieren weiblicher Psychen und Sehnsüchte am Ende einer Ehe oder eines Lebens.

Es gibt auch postmoderne Etüden, Surreales, Phantasmagorisches. Und immer wieder überwältigende Wortfindungen, Bilder und Sätze – so wenn sie über Brasília schreibt und die monumental brutalistische Kapitale einmal um die chrono-erzählerische Achse dreht.

Mit Clarice Lispector ist eine der größten Autorinnen der Moderne wieder zu lesen, von neuem, immer wieder. (Alexander Kluy, 11.12.2020)