Christian Sitzwohl ist Intensivmediziner am St.-Josef-Krankenhaus in Wien und hat mit Kollegen das Wiener Intensivnetzwerk gegründet, um die Versorgung von Covid- und Nicht-Covid-Patienten spitalsübergreifend abzustimmen. Zum Wiener Intensivnetzwerk gehören alle Krankenhäuser des Wiener Gesundheitsverbundes, die Ordensspitäler der Vinzenz-Gruppe, das Franziskusspital und die Barmherzigen Brüder.

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Volle Intensivstationen, die Pflege am Anschlag – und dann die Lockerungen. Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) sagt, man habe es gerade noch geschafft. Wir fragen bei Intensivmedizinern selbst nach.

STANDARD: Haben wir es gerade noch einmal geschafft, stimmen Sie zu?

Sitzwohl: Ich sehe das sehr differenziert. Wir konnten und können bislang alle Covid-Patienten versorgen. Wir haben das durch einen Zusammenschluss der Intensivmediziner der verschiedenen Krankenhäuser der Stadt geschafft. Im Wiener Intensivnetzwerk besprechen wir jeden Donnerstag, wie sich die Zahlen entwickeln und mit wie vielen Kranken wir rechnen und wer Hilfe braucht.

STANDARD: Freie Intensivbetten gibt es nie, haben Sie unlängst gesagt.

Sitzwohl: Nein, jedes Krankenhaus muss erst Intensivbetten freimachen. In der aktuellen Pandemie heißt das: Intensivbetten für Nicht-Covid-Patienten umwidmen. Dass die Lage immer noch angespannt ist, zeigt sich daran, dass wir derzeit in Wiener Spitälern auch Patientinnen und Patienten aus anderen Bundesländern intensivmedizinisch versorgen.

STANDARD: Wie genau ist das mit den Non-Covid-Patienten, die intensivmedizinisch versorgt werden müssen?

Sitzwohl: Für sie ist die Situation ebenfalls sehr knapp geworden. Diese Entwicklung geht parallel. In einzelnen Spitälern bauen wir Pop-up-Intensivstationen. Sie sind zum Beispiel in den Aufwachräumen vor Operationssälen, in denen weniger operiert wird. Die Pflegekräfte sind extrem belastet.

STANDARD: Was heißt das?

Sitzwohl: Ich denke, man kann sagen, dass es sich dort vor allem für das extrem belastete Personal eigentlich nicht mehr ausgeht.

STANDARD: Hätte die intensivmedizinische Versorgung auch zusammenbrechen können?

Sitzwohl: Diese Frage ist seriös sehr schwer zu beantworten. Aber da wir jetzt die Patienten schon quer durch Österreich fahren, damit sie in anderen Bundesländern adäquat betreut werden können, würde ich sagen, viel mehr hätte es nicht sein dürfen. Der Lockdown hat verhindert, dass viel mehr passiert.

STANDARD: Wie sehen Sie die Lockerungen. War es aus Ihrer Sicht zu früh?

Sitzwohl: Nein, die Kollateralschäden waren schon so groß genug. Es geht ja auch darum, über das Gesundheitssystem hinaus zu blicken. Ich hoffe auf die Eigenverantwortung der Menschen zu Weihnachten.

STANDARD: Was genau verstehen Sie darunter?

Sitzwohl: Dass sie diszipliniert feiern, sich an die Abstandsregeln halten und sich, wenn möglich, vorher testen. Wenn das nicht passiert, ist die Gefahr groß, dass wir im Jänner wieder dorthin kommen, wo wir vor zwei Wochen waren.

STANDARD: Und langfristig?

Sitzwohl: Hoffe ich auf die Impfung und auf eine flächendeckende, gute Information darüber, die auch die Impfgegner und Skeptiker an Bord holt. Es müssen sich viele impfen lassen, damit wir das Virus aushungern. Nur so ist ein Sieg zu schaffen.

STANDARD: Was heißt das genau?

Sitzwohl: Wir hatten in Österreich aktuell 313.699 Covid-Fälle, das sind circa vier Prozent der Bevölkerung. Für eine Herdenimmunität müssen 60 Prozent geimpft sein. Ohne eine Impfung, also quasi auf natürlichem Weg, ist das mit den Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems niemals zu erreichen. Wer das Gesundheitssystem erhalten will und damit sicherstellen will, dass alle Krankheiten, die in den kommenden Monaten anfallen, versorgt werden können, wird sich impfen lassen.

STANDARD: Sie sich selbst auch – und mit welchem Impfstoff?

Sitzwohl: Ich werde mich definitiv ehestmöglich impfen lassen – und bin übrigens auch gegen Grippe geimpft. Ich denke, dass die soeben veröffentlichte Arbeit zeigt, dass der Pfizer/Biontech-Impfstoff sehr gut funktioniert. (Karin Pollack, 12.12.2020)