Muss man sich um die Europäische Union und ihre befreundeten Nachbarstaaten größere Sorgen machen? Nach dem jüngsten EU-Gipfel drängt sich eine recht zweideutige Antwort auf: nein – und ja.

Einerseits haben die nach dem Brexit nur noch 27 Staats- und Regierungschefs gezeigt, dass sie bei allem Streit und Hader im entscheidenden Moment immer wieder in der Lage sind, sich doch noch zusammenzureißen und mit Kompromissen wesentliche Entscheidungen zu treffen. Am Ende eines Horrorjahres, das die Corona-Pandemie uns seit Februar beschert hat, ist das eine nie zu unterschätzende Eigenschaft, ein Vorteil.

Houses of Parliament in London.
Foto: AFP/HOLLIE ADAMS

Davon lebt die EU, seit es sie gibt. Es ist in ihrer Natur, dass egoistische Nationalstaaten von Maximalpositionen abgehen, auf andere zugehen. Wenn dieses Prinzip nicht mehr akzeptiert wird, kommt es zu Brüchen. Genau das ist mit Großbritannien passiert: der ultimative Vertrauensbruch. Die Konsequenz war der EU-Austritt des Landes.

Insofern kann für die Union Entwarnung gegeben werden: So wie nach der Finanzkrise 2008 wird man sich auch diesmal gemeinsam herauskämpfen. Und bei aller Kritik an "faulen" Kompromissen zählt doch das Wichtigere: Die 27 Mitgliedsstaaten haben das mit Abstand größte EU-Budget aller Zeiten definitiv beschlossen. Das verschafft der EU Luft. Die Schäden durch Corona in den hauptbetroffenen Staaten lassen sich gemeinsam leichter beseitigen. Die Union kann damit auch Investitionen in eine modernere, umweltgerechtere Politik finanzieren, so wie man sich das 2019 vor der Corona-Krise vorgenommen hat.

Zumindest insofern kann man Entwarnung geben. Wenn die Massenimpfungen gegen das Coronavirus demnächst starten, wozu Brüssel viel beigetragen hat, dürfte sich auch die Lage an der Gesundheitsfront entspannen.

Machtlosigkeit

All dem steht freilich die ganz andere Seite dieses EU-Gipfels entgegen. Er hat nicht nur die außenpolitische Machtlosigkeit der Europäischen Union bestätigt – Stichwort Türkei, Dauerproblem Russland. Die Europäer sind nicht in der Lage, sich in der Nachbarschaft ausreichend Gehör zu verschaffen, um ihre Interessen zu wahren. Wirklich enttäuschend und auch bedrohlich ist aber, was sich für die künftigen Beziehungen zu Großbritannien abzeichnet, wenn die Brexit-Übergangsfrist mit Jahresende abläuft. Es droht der totale Bruch.

Wenn sogar Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als mächtigste EU-Politikerin offen davon spricht, dass ein No-Deal-Ausgang viel wahrscheinlicher als ein geordneter neuer Handelsvertrag ist, wird klar, was läuft. Es müsste ein Wunder geschehen, damit es noch zu einer gütlichen Einigung kommt.

Man muss sich – nach Brexit und Corona – auf einen noch härteren Aufprall der britischen Wirtschaft einstellen. Auch wenn die mächtigere Union weniger betroffen sein wird, ist klar, dass einige EU-Staaten in der Nähe der britischen Insel dadurch schwer leiden würden. Die Gemeinschaft wäre also in Sachen Solidarität und Hilfen zumindest im ersten Halbjahr 2021 noch mehr gefordert als bisher.

Im Grunde wäre das ein absurder Vorgang: Man macht eingespielte Handelsbeziehungen erst kaputt, um sie anschließend wieder neu aufzubauen. Es sah am Freitag ganz danach aus, als hätten sich die 27 Staats- und Regierungschefs damit bereits abgefunden. Boris Johnson sein Undank! (Thomas Mayer, 11.12.2020)