Ein Brexit-Gemälde des britischen Künstler Banksy an einem Gebäude in Dover.

Foto: AFP/Glyn KIRK

Wer weiß schon, ob dieser dritte Advent wirklich das Ende markiert oder nicht doch noch eine Vereinbarung zwischen EU und Großbritannien ankommt? Lang genug währt das traurige Pokerspiel nun schon, da mag es auch noch die verbleibenden gut zwei Wochen lang weitergehen, bis das Königreich an Silvester aus der Übergangsphase ausscheidet.

Premierminister Boris Johnson versucht natürlich, das bevorstehende chaotische Ausscheiden ("No Deal") seines Landes aus dem größten Binnenmarkt der Welt den Verhandlungspartnern in die Schuhe zu schieben. Man habe schließlich nichts anderes gewollt als die frühere Kolonie Kanada mit dem Ceta-Abkommen 2017 erreicht hat, behauptet der Regierungschef treuherzig und verschweigt dabei, dass dieser Deal niemals zur Debatte stand. Die viel kleinere Volkswirtschaft in Nordamerika lässt sich nun mal nicht vergleichen mit dem langjährigen EU-Mitglied, dessen Exporte zu 45 Prozent auf den benachbarten Kontinent gehen.

Hohe Kosten

Stattdessen werde man mit der EU eben Handel treiben "wie Australien", nämlich nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO, hat Johnson in der vergangenen Woche immer wieder betont. Das werde "wunderbar" funktionieren. Gewiss ist WTO-Handel machbar. Aber er hat katastrophale Folgen, für die EU-Mitglieder ebenso wie für Großbritannien selbst.

Seit Wochen warnen Fuhrunternehmer vor Milliarden-teurem neuen Papierkram und langen Lastwagenschlangen an der Grenze. Am Wochenende waren sie auf beiden Seiten der Kanalhäfen Calais und Dover – durch das Nadelöhr bezieht die Insel rund ein Drittel aller Importe – zu besichtigen. Schon ist in der Regierung von einer mehrmonatigen Übergangsphase die Rede, in der die neuen Regeln des angeblich so harten Einwanderungs- und Zollbestimmungen nicht gelten. Soviel zur versprochenen "Kontrolle unserer Grenzen".

Dafür soll die Royal Navy von Neujahr an im Ärmelkanal Fischereipolizei spielen und böse Fischkutter aus Frankreich oder den Niederlanden kontrollieren. "Völlig unverantwortlich" nennt der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, ein Konservativer, dieses Vorgehen. Tobias Ellwood weist darauf hin: Schiffe, Flugzeuge und Drohnen haben mit der Überwachung des Nordatlantiks, nicht zuletzt den dauernden Provokationen Russlands mehr als genug zu tun. Ein Abzug der in Schottland stationierten Einheiten würde den britischen Norden komplett entblössen – viel Wasser auf die Unabhängigkeitsmühlen der schottischen Regierung und der sie stellenden Nationalpartei SNP unter Nicola Sturgeon.

Großer Schaden

Alles egal. Der frühere Gouverneur von Hongkong, Chris Patten, sagt nicht umsonst verächtlich vom Premierminister, dieser sei "kein Konservativer, sondern ein englischer Nationalist". Johnsons feindliche Übernahme der altehrwürdigen Tory-Partei im vergangenen Jahr und sein Schwindelwahlkampf, in dem von einem "ofenfertigen Deal" mit Brüssel die Rede war, nahmen den No Deal stets in Kauf, steuerten ihn womöglich aktiv an. Die Nationalisten rund um die frühere Brexit-Galionsfigur peilen einen kompletten Bruch mit dem Club an, dem die meisten wichtigen Partner und Freunde der Insel angehören.

Mit der Ankündigung, er werde den Austrittsvertrag und damit das geltende Völkerrecht brechen, hat der Hasardeur in der Downing Street die Europäer im Herbst zum Abbruch der Verhandlungen provozieren wollen. Kleinlaut zog London die entsprechenden Klauseln im Binnenmarktgesetz zurück; das Vertrauen in vertragstreues Verhalten Großbritanniens aber ist auf Jahre hinaus beschädigt.

Wie die fanatischsten Befürworter des EU-Austritts setzt der Regierungschef der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt darauf, dass die Brexit-Folgen im ökonomischen Chaos der Coronapandemie untergehen werden. Das Kalkül könnte aufgehen.

Weltweites Gespött

Vielleicht wird man sich in den Reihen der 27 fragen, ob ein wenig mehr Entgegenkommen angezeigt gewesen wäre. Vor allem beim wirtschaftlich unbedeutenden, aber emotional eminent wichtigen Fischfang haben die Briten gute Argumente auf ihrer Seite. Einfach nur auf dem Status Quo zu beharren, wie es Frankreichs Präsident Emmanuel Macron aus Angst vor seinen militanten Fischern tat, führt nicht weiter. Auch bei der Frage nach Schlichtungsmechanismen jenseits des Europäischen Gerichtshof hätten sich bei ein wenig mehr Flexibilität womöglich Lösungen finden lassen.

Versäumnisse auf Seiten der EU sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen: Das "globale Britannien", von dem Premierminister Boris Johnson gern schwärmt, macht sich weltweit zum Gespött und absorbiert Europas Energie zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Probleme häufen: Chinas zunehmende Aggressivität gegenüber seinen Nachbarn; immer neue Cyber-Angriffe aus Russland; die ungeklärte Lage im Nahen Osten; die voranschreitende Klimawandel. Das endgültige Scheitern der Verhandlungen wäre tatsächlich auf beiden Seiten "ein Versagen der Staatskunst". Gesagt hat das, natürlich, Boris Johnson. (13.12.2020)