Residierte in Neuchatel und behielt von dort aus den Irrsinn der Welt im Blick: Friedrich Dürrenmatt, Dichter, mit gefiedertem Hausgenossen.

Foto: Zürich Film Festival

Ein besonders langlebiges Double, das er von sich anfertigte, nannte Friedrich Dürrenmatt, der Schweizer Pfarrerssohn und Dramen-Riese aus dem Emmental, "Schwitters". Besagter Mann, der rein zufällig so heißt wie einer der größten Dada-Künstler aller Zeiten, verkörpert in der Komödie "Der Meteor" (1966) das Ideal eines Dichters: zu unsterblichem Ruhm gelangt, also unwirksam geworden. Schwitters ist Nobelpreisträger. In seiner Eigenschaft als Dramenheld plagt ihn jedoch ein entscheidendes Malheur, eine Art Sterbe-Insuffizienz. Er ist ein Todgeweihter auf Raten.

Kaum im Spitalsbett gestorben, erwacht er schon wieder aus todesähnlichem Schlaf. Bestürzt hetzt Schwitters hinüber in das Maleratelier seiner Jugendtage. Wieder nichts: Das eine Mal ist die nackte Hauptmieterin zu verführerisch. Ein anderes Mal stört der Hausbesorger, oder der eigene, missratene Sohn will unverzüglich das beträchtliche Erbe kassieren. Irgendwann fällt zum letzten Mal der Vorhang; doch mit Schwitters‘ Auftritt ist weiterhin zu rechnen.

Es wäre eigentlich zum Aus-der Haut-Fahren – wenn Schwitters nicht ausgerechnet am Sterben unausgesetzt gehindert würde. Man hört den unverbesserlichen Melancholiker Dürrenmatt dröhnend lachen, so laut, dass die Kalkriesen im Berner Oberland erzittern. Der Stolz der eidgenössischen Dramatik ist heute vor 30 Jahren gestorben. Hätte er etwas länger durchgehalten, wäre er am 5. Jänner 1991 70 Jahre alt geworden. Vielleicht, wer weiß, würde er mit uns Anfang 2021 sogar seinen Hunderter begehen: trotz Zuckerkrankheit mit einem wahrhaft gargantuesken Appetit gesegnet. Unfassbar lange Zigarren rauchend.

Den begeisterten Zigarrenfreund Brecht, erzählte Dürrenmatt einmal, hätte er in Zürich zum Genuss einer Havanna überreden müssen. Der große BB verstand nämlich nichts von Tabak. Aber womöglich meinte Dürrenmatt, Schöpfer eines waschechten Bankendramas wie "Frank der Fünfte" (1958), dass er auch von Ökonomie mehr Ahnung besaß als sein verdutztes Gegenüber.

Welt aus Kantonen

Dürrenmatt dachte sich die Welt anschauungsgemäß in Kantone zerfallen. Jede einzelne Verwaltungseinheit wird von einem Gangsterboss überwacht. Am Ende des Tages fügen sich die einzelnen Sektoren zu einem Syndikat zusammen. Die ganze Schöpfung zerbirst. Doch in der Sekunde ihres Untergangs hört man einen verantwortungslosen Gott in zustimmendes Gelächter ausbrechen. Gut möglich, dass der Allmächtige eine Zwangsjacke trägt.

Wer heute Dürrenmatt sagt, wird sofort auf den "Besuch der alten Dame" (1956) zu sprechen kommen, eventuell noch an "Die Physiker" denken, an lieblos vergeudete Deutschunterrichtsstunden. Im ersten dieser beiden Schulbuchdramen wird der ökonomische Sündenfall als Tragödie des Sündenbocks erzählt: Der im beschaulichen Güllen hausende Ill wird von seiner heimkehrenden Jugendliebe, der steinreichen Zachanassian, zum Abschuss nicht nur freigegeben. Er wird – als verantwortungsethisch unlösbarer Fall – an die Allgemeinheit weitergereicht.

Das Unbehagen an Dürrenmatts Versuchsanordnungen resultiert aus ihrer eisigen Kälte. Als letzter Gesellschafter sitzt der Menschheit kein verzeihender Gott gegenüber, auch keine andere, belangbare Instanz. Es gähnt die Menschen das Nichts an. "Metaphysische Gleichnisse" nannte der Schweizer seine Dramen und Romane. Von der "Wesenheit des heiligen Nichts in der Sechsfaltigkeit Gottes", wie es im Materialsteinbruch der "Stoffe" einmal heißt, hat er allein den leeren Faltenwurf übernommen.

Dürrenmatts unverändert faszinierende Werke, zu denen auch Kriminalromane wie "Der Verdacht" zählen, gleichen Spieluhren, deren Zeiger in rasender Eile leere Zifferblätter umrunden. Den Vorwurf, er häufe in seinen Stücken zu viele Leichen an, verbat sich der malende Wüstling: "Aus mir einen Komödien-Eichmann zu machen, das geht nicht!"

Kopfschütteln

Für die mehr praktische Veranlagung seines eidgenössischen Konkurrenten Max Frisch hatte er bloß Kopfschütteln übrig. Die Warnung vor dem entzündeten Dach über dem Kopf in dessen "Biedermann und die Brandstifter" tat er brüsk ab: "Das Stück trifft nicht zu, denn in der Schweiz ist doch jedermann brandversichert!"

Irgendwo, in einem unerreichbaren Bezirk hinter den Spiegeln, begänne womöglich die Freiheit. Die letzten Arbeiten des von alten Welterfolgen zehrenden Wüstlings wurden von der Kritik als "Kabarett" abgetan. Das Irrenhausdrama "Achterloo" (1988), in dem Napoleon und Jan Hus miteinander die Verhängung des Kriegsrechts in Polen nachspielen. Den Roman "Durcheinandertal" (1989), in dem "der große Alte" den Abschaum der Welt in ein Schweizer Kurhotel auf Winterurlaub schickt, ehe das Sanatorium lichterloh in Flammen aufgeht.

Dürrenmatts Labyrinthe aus ineinander verschachtelten Welten sind noch unzulänglich erforscht. Man sollte dieses Werk aus seinem Todesschlaf wecken. Es ist leider anzunehmen, dass die zeitgenössischen Bühnen für diese Kalorienbomben zu stark unterzuckert sind. (Ronald Pohl, 14.12.2020)