Seit Jahrzehnten protestieren Organisationen behinderter Menschen gegen die ORF-Charity-Kampagne „Licht ins Dunkel“ (LiD). Zuletzt hat zum Beispiel die Vorsitzende des Bundesmonitorungausschusses, Christine Steger, zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen massiv Recht statt Charity eingefordert.

Gelernte Österreicherinnen und Österreicher sind mit dem Phänomen LiD, das das traditionelle Weihnachtsfest in einen Marktplatz von Wohltätigkeit verwandelt, vertraut. Die gesamte österreichische politische, kirchliche und andere Prominenz tritt auf, LiD hat sich in ein seit Jahrzehnten gepflegtes und nicht mehr wegzudenkendes politisches Ritual entwickelt. Niemand kann sich in der Weihnachtszeit der auf allen Kanälen und Sendern des ORF inszenierten Überschwemmung mit „Licht ins Dunkel“ entziehen, an der sich auch alle wichtigen Tageszeitungen mit gratis geschalteten ganzseitigen Anzeigen beteiligen.

Soziales Risiko Behinderung

Doch welche handfesten Interessenslagen verbergen sich hinter der ORF-Charity-Show, die Weihnachten nutzt und das Weihnachtsgefühl verändert?

Behinderung ist ein Risiko wie Krankheit, Unfall, Armut oder Arbeitslosigkeit. Alle Menschen können jederzeit selbst oder als Angehörige davon betroffen sein. Warum ist ausgerechnet in diesem klassischen Feld sozialer Sicherungssysteme beim Risiko Behinderung Charity so dominant? Seit dem Mittelalter waren Barmherzigkeit und Spenden zentrales Mittel, um Elend etwas zu kompensieren und sozialen Ausgleich zu schaffen. Im 19. Jahrhundert kam es im Zeichen aufgeklärter Politik zur systematischen Einrichtung von Anstalten und Asylen. Die „große Einschließung“ verband Unterstützung mit Gewalt und Ordnung, der Entwicklung von Disziplinartechniken zur Kontrolle Abweichender. Der aufblühende ökonomische Liberalismus und die Industrielle Revolution hatten massenhaftes Elend in der Bevölkerung zur Folge, dazu neue Gefährdungen für Gesundheit und Leben. Der Aufstand der Arbeiterbewegung ebnete neuen sozialen Sicherungssystemen den Weg, die dem Prinzip Solidarität folgten.

Der heutige Versuch, über neoliberale Ökonomie die sozialen Sicherungssysteme über Deregulierung, Verminderung von „Abgaben-Lasten“ und Privatisierung zurückzudrehen, ist in allen Lehrbüchern zum Neoliberalismus gut beschrieben. Sind wir rückwärts „auf dem Weg vom Sozialversicherungs-, zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat?“ fragt zum Beispiel der deutsche Armutsforscher Christoph Butterwegge. Passt „Licht ins Dunkel“ perfekt zu dieser Strategie? Ja, sicher sind hier zentrale Zusammenhänge erkennbar, sie erklären aber noch nicht ausreichend den Erfolg der aufdringlichen Dramatisierung und die Wucht von „Licht ins Dunkel“.

Es fehlt nicht an Geld

Im Hintergrund von LiD sind gemeinsam mit dem ORF eine Reihe großer Einrichtungen der Behinderten-, Kinder- u. Jugendhilfehilfe aktiv. Die circa zehn Millionen Spendengelder können gebraucht werden, so die Botschaft. Nicht berichtet wird, mit welchen Summen die Behindertenpolitik in Österreich agiert. Es dürften dies entsprechend internationalen Vergleichsstudien, ähnlich wie im EU-Durchschnitt, an die zwei Prozent des Bruttonationalproduktes sein. Das sind circa acht Milliarden Euro [Berechnung des Autors]. Dagegen sind die LiD-Erlöse lächerlich klein. Mit etwas besserer Koordination der Mittel von Bund, Ländern und Sozialversicherungen ließen sich die LiD-Summen ohne Spenden leicht aufbringen.

LiD porträtiert Behinderungen als soziales Risiko.
Foto: AP Photo/Jae C. Hong

Symbolisches Kapital im Zentrum

Wichtiger als lange anstehende strukturelle Lösungen im Bereich der Behindertenpolitik zu unterstützen, erscheinen den an LiD beteiligten Akteurinnen und Akteuren das symbolische Kapital und das politische Kleingeld, das durch die Inszenierung von behinderten Personen als spendenbedürftig gewonnen wird. Das Vorzeigen von Unterstützungsbedürftigkeit, die Individualisierung des Problems einzelner behinderter Personen oder einzelner Familien, führt gezielt weg von der sozialen Sicht von Behinderung, wie sie menschenrechtlich und wissenschaftlich aktuell ist.

Ein Beispiel: In der derzeit laufenden LiD-Kampagne Weihnachten 2020 wird die Familie eines behinderten Kinds mit sehr hohem Unterstützungsbedarf gezeigt. Die Familie ist dankbar, dass sie für das Kind eine gute Sitzschale von LiD-finanziert bekommt. Warum wird dieses gesundheitsfördernde Hilfsmittel nicht selbstverständlich öffentlich finanziert? Warum muss für eine neue Sitzschale eine betroffene Familie um Spenden bitten und dafür dankbar sein? Warum muss dafür ein behindertes Kind als Objekt von Mildtätigkeit herhalten und öffentlich vorgezeigt werden?

Diese in Österreich gesellschaftlich und kulturell immer noch festverankerte Praxis wurde von der Uno bereits mehrfach kritisiert, sie widerspricht sowohl der UN-Behinderten- als auch der UN-Kinderrechtskonvention. Kinder mit Behinderungen, so der UN-Kinderrechteausschuss im Februar 2020, würden in Österreich als Objekte von Charity und nicht als Inhaber von Rechten dargestellt. Bewusstseinsfördernde Maßnahmen für Medien, Regierung, Öffentlichkeit und Familien seien notwendig, um die Stigmatisierung von und Vorurteile gegenüber Kindern mit Behinderungen zu überwinden. Mit dem unbeirrten Festhalten an der in den 1970er-Jahren ins Leben gerufenen Charity "Licht ins Dunkel" ignoriert Österreich einmal mehr menschenrechtliche Verpflichtungen und Empfehlungen.

Politische Inszenierung die behindert

Bei LiD geht es ORF und Politik in Österreich um die Erhöhung des eigenen symbolischen Kapitals über Wohltätigkeit und die damit verbundene Selbstrepräsentation. Die längst überholte Vorstellung von Behinderung als individuelles Schicksal wird bei der Wählerschaft und Medienkonsumierenden verstärkt, anstatt im Sinne einer an Gleichstellung und Menschenrechten orientierten Politik eine zeitgemäße Behindertenpolitik und die dafür notwendige Neuordnung der Zuständigkeiten von Bund-Ländern und Sozialversicherungen zu verhandeln. Mildtätiges Lächeln ist allemal mit weniger Aufwand und Widerstand verbunden als mühsame politische Verhandlungen um Verteilungsgerechtigkeit und nachhaltige Reformen, wie zum Beispiel flächendeckende Persönliche Assistenz, gemeindenahe familienentlastende Dienste und Kinderassistenz, Deinstitutionalisierung, barrierefreies Wohnen, Inklusion in Bildung und Arbeit und so weiter.

"Licht ins Dunkel" ist im Sinne politischer Kommunikationsforschung eine politische Inszenierung, in der Rituale und Mythen verwendet und erzeugt werden. Sie be- und verhindern reale Reformen, sie verstärken konsum- und Charity-schwangere Weihnachten, ein politisches Spiel mit behinderten Menschen das sie behindert … (Volker Schönwiese, 21.12.2020)

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