Kommunikationswissenschafter Stephan Russ-Mohl.

Foto: STANDARD, Urban

Die Corona-Pandemie, die Überdosis an medialer Covid-19-Berichterstattung und die von der Politik verhängten Lockdowns schlagen uns weiter in ihren Bann. Nicht zuletzt zeitigt der Diskurs über "unbelehrbare Covidioten" auf der einen und "Corona-Paniker" auf der anderen Seite Kollateralschäden: Wenn je knapp neun Millionen Einwohner in Österreich und in der Schweiz und über 81 Millionen in Deutschland als "Experten" nicht über Fußball, sondern über den richtigen Umgang mit der Pandemie diskutieren, vertieft das fraglos die Spaltung unserer Gesellschaften – wobei neue Klüfte entstehen, die zum Teil auch Familien und Freundeskreise beschädigen.

Hinterfragen

Vielleicht würde es einen "kleinen", aber entscheidenden Unterschied im Blick auf unsere Lernfähigkeit vor und nach Corona machen, wenn wir zumindest versuchten, im Alltag ein paar Diskurs-Spielregeln zu beherzigen.

Dazu gehört einerseits, vermeintlich gesicherte Wahrheiten, gelegentlich sogar die "wissenschaftlichen", infrage zu stellen. Andererseits sollten wir uns bewusst machen, wie raffiniert die Möglichkeiten der Beeinflussung, also der Meinungsmache und Verhaltensfernsteuerung, inzwischen sind – dank konzertierter Propaganda und inzwischen auch dank Deep Fakes, also versierter Manipulation von Bildern und Videos.

Informationsquellen

Erstens sollte jeder von uns sich die eigene selektive Wahrnehmung vergegenwärtigen, also den "Confirmation-Bias" bekämpfen – den Fehler, die eigenen Vorurteile bestätigt bekommen zu wollen. Zweitens sollten wir alle auf Vielfalt unserer eigenen Informationsquellen achten. Früher mag es gereicht haben, als Linksliberaler den STANDARD, die "Süddeutsche Zeitung" oder den "Falter" zu lesen, und als Konservativer war man eben auf "Die Presse" oder die "F.A.Z." abonniert. Als Leser hat man zuverlässig mitgekriegt, was im jeweils anderen Lager gedacht wurde.

Die heutige Polarisierung, der Abschied von einem "Journalismus, der nichts will" (Johannes Gross), sind demgegenüber zweifelhafte Errungenschaften. In Italien ist es ja seit Jahrzehnten so, dass gebildete Menschen mehrere Zeitungen lesen müssen, um zu erfahren, was in der Welt los ist, weil sich keine von ihnen um ein umfassendes Bild des Weltgeschehens bemüht. Als Umberto Eco die "Infantilisierung" der Medien in seinem Land beklagte, hat er womöglich nicht nur die leicht bekleideten TV-Nachrichtensprecherinnen der Berlusconi-Sender gemeint, sondern auch diesen Nanny-Journalismus.

In einer digitalisierten Welt lässt sich damit allerdings leichter umgehen als in der alten, print-geprägten: Man braucht die eigene Mediendiät nur gezielt um das zu ergänzen, was einem gegen den Strich geht: Als Linker sollte man sich angewöhnen, gelegentlich mal in der "Neuen Zürcher Zeitung" oder sogar bei "Tichys Einblick" oder "Achgut" nachzulesen. Und Liberal-Konservative stecken sich nicht schon deshalb mit einem Umverteilungs- und "Gerechtigkeits"-Virus an, weil sie ab und zu mit "taz" oder "Freitag" den Horizont erweitern.

Spaltpilze dingfest machen

Drittens gilt es, die Spaltpilze dingfest zu machen, sich also zu vergegenwärtigen, wie sich an den rechten und linken Rändern der Gesellschaft Populisten gegenseitig hochschaukeln. Inzwischen hat sich auch der Journalismus sehr stark polarisiert und "italienisiert": Der "Spiegel" hat das jüngst stolz in einem Debattenbeitrag als neuen "journalistischen" Stil verkündet: "Die Zeit der Neutralität ist vorbei." Offenbar hat der Verfasser noch nicht einmal gemerkt, dass er damit das Geschäft von PR-Agenturen besorgt.

Statt als "Dienstleister" ihr jeweiliges Publikum mit möglichst vielfältigen, möglichst geprüften Nachrichten zu versorgen, nehmen uns diese neuen "Journalisten" als Gouvernanten an die Hand. Sie zeigen uns, wo es gesellschaftlich langgehen soll. Dabei möchten die meisten Menschen gewiss nicht informationell bevormundet werden.

Misstrauisch sein

Viertens sollten wir misstrauisch sein, sogar gegenüber Leitmedien: Selbst auf Seriosität bedachte Redaktionen sind längst nicht mehr in allen Ressorts so gut ausgestattet, dass sie nicht anfällig wären für PR-Zulieferungen, manchmal auch für raffinierte Propaganda autoritärer Regimes.

Fünftens sollten wir in sozialen Medien nicht alles teilen, was die eigenen Vorurteile bestätigt. Heroisch wäre es, stattdessen Informationen insbesondere dann mit dem Share-Button weiterzuleiten, wenn man sie überprüft hat, weil sie einem gegen den Strich gegangen sind – und wenn sie trotzdem stimmen. In jedem Fall sollten wir innehalten, bevor wir den Like- oder Share-Button betätigen.

Sechstens sollten wir gezielt – und gerade dort, wo sich der Aufwand lohnt, also bei Influencern und Meinungsbildnern – die Filterblasen der anderen anpiksen, Luft herauslassen, sie manchmal mit Anregungen und kritischen Fragen aufpumpen. Dabei sollten wir versuchen, diejenigen zusammenzubringen, die ernsthaft und unvoreingenommen das Projekt der Aufklärung retten wollen.

Eigenständiges Denken

Siebtens sollten wir mehr "Mut zur Erziehung" haben. Nein, nicht gegenüber dem Rest der Welt – ihm sollten wir tunlichst nicht als Oberlehrer begegnen. Aber im Umgang mit Kindern und jugendlichen "Schutzbefohlenen" gilt es, deren eigenes Denken und Nachdenken zu stimulieren. Dabei können Projekte wie Debating Societies, UN-Simulationen und andere Spiele helfen, bei denen Teilnehmer mal in die Rolle des Advocatus Diaboli schlüpfen müssen. Die digitale Variante dazu sind Streitkulturforen und Debatten-Podcasts.

Achtens, neuntens und zehntens sollten wir skeptisch sein und eigenständig denken. Tagtäglich. Immer wieder. Statt sich im Schwarm einfach treiben zu lassen. Ein Aphorismus kann dabei helfen: "Nur wer gegen den Strom schwimmt, kommt an die Quelle." Er hat übrigens, wie so manches im Leben, mehrere Väter und wird wahlweise Stanisław Lec, Hermann Hesse oder Konfuzius zugeschrieben. (Stephan Russ-Mohl, 15.12.2020)