Alten Menschen fehlt oft eine Aufgabe und soziales Eingebundensein. Sterbehilfe kann nur der allerletzte Ausweg sein – vorrangig ist es, den Wunsch zu sterben zu bekämpfen.

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Mit 1. Jänner 2022 ist Sterbehilfe nicht mehr strafbar, der Verfassungsgerichtshof argumentiert mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Die gesellschaftlichen Probleme sitzen indes tiefer: Zu viele alte Menschen sehen keinen Sinn im Leben mehr – wir müssen versuchen, sie stärker einzubinden, schreibt Saskia Jungnikl im Gastkommentar.

Lange war, wenn ich an meinen Vater gedacht habe, das Gefühl vorrangig, dass alles hätte anders laufen können. Hätte müssen. Und wie dieses "anders" hätte aussehen können und was es dazu gebraucht hätte. Wann alles begonnen hat zu kippen. Mein Vater hat sich an einem Sommerabend erschossen. Auf dem Hof meiner Kindheit, unter unserem alten, großen Nussbaum, dessen Nüsse ich immer gesammelt habe und wo er sich einmal den Meniskus kaputtgemacht hat, weil er mich hinunterheben wollte und das Gleichgewicht verloren hat.

Es hätte alles anders laufen können. In den Jahren danach hängt man in dieser Schleife fest, die parallel zu dem Leben verläuft, das man gerade führt, und in der man jeden Moment noch einmal hernimmt, dreht und wendet, versucht, ihn passend zu machen, und doch wieder verwirft. Man wälzt Fragen, auf die man nie eine Antwort bekommen wird. Es macht einen kaputt, wenn man sich die Antwort nicht irgendwann selbst gibt.

Sie ist in meinem Fall schlicht: Ich wusste nicht, dass er sterben wollte. Er hat es mir nie gesagt. Nun ist das nicht so überraschend, Suizid ist ein Tabu. Das liegt an unserer Gesellschaft, in der man über Tod und Trauer nicht redet, und es liegt an der Gesetzgebung, die das bisher forciert hat. Denn hätte mein Vater mich, meine Mama, eines meiner Geschwister um Hilfe gebeten, hätten wir uns strafbar gemacht. Hilfeleistung zum Selbstmord war bisher ein Straftatbestand. Das wird sich nun ändern. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) kippt mit 1. Jänner 2022 die Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid. Er argumentiert mit dem Recht auf freie Selbstbestimmung. Ein wichtiger Schritt.

Sozial vereinsamt

Er löst nicht das Grundproblem. Suizid im Alter ist ein großes Problem unserer Gesellschaft. Das zeigt sich in den Statistiken: Fast die Hälfte aller Menschen, die sich töten, sind in der Altersgruppe ab 60 Jahren. Vor allem ältere Männer sind gefährdet. Dabei wollen die meisten der Menschen, die sich töten, nicht sterben. Die meisten sehen keinen Sinn mehr im Leben, keinen Ausweg, keine Zukunft. Sehr oft sind sie einsam. Es fehlen ihnen soziale Kontakte und eine Aufgabe. Gerade bei Männern ist da meist kein Netzwerk, das sie auffangen kann, und sehr oft können sie nicht um Hilfe bitten.

Ein Schritt, den das Urteil erleichtern könnte. Wer um Hilfe bei seinem Tod bittet, sagt, dass er sterben will. Und lässt damit eine Möglichkeit zu, in der ein mögliches Hilfssystem einsetzt und vielleicht eine Lösung gefunden werden kann, die ein gewolltes Weiterleben ermöglicht. Denn die große Angst ist es ja, entmündigt zu werden. Dass einem das Leben aus der Hand genommen wird und mit ihm die Entscheidungen, die es ausmachen.

Damit der Wunsch nicht aufkommt

Das Argument des VfGH setzt genau hier an: "Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst das Recht auf die Gestaltung des Lebens ebenso wie das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Sterbewilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen."

Doch unser gesellschaftliches Problem ist viel größer als die simple Frage nach Sterbehilfe. Wir als Gesellschaft müssen uns überlegen, wie wir mit alten Menschen umgehen und umgehen wollen. Wie geben wir diesen Menschen das Gefühl, dass sie nicht nutzlos sind? Wie können wir ihre Erfahrung nutzen? Wie fordern wir sie weiter? Wir müssen darüber diskutieren, wie wir es schaffen, ältere Menschen stärker einzubinden, damit der Wunsch zu sterben gar nicht erst aufkommt. Wir sollten versuchen, Netze zu spannen, die Menschen auffangen können, die nicht mehr weiterwissen. Wir müssen ein Klima schaffen, in dem man über eigene Probleme einfacher reden kann.

Ein schönerer Tod

Hätte mein Vater mit mir über seinen Wunsch zu sterben reden können, wäre ich mit ihm zum Therapeuten gegangen. Zu einem Arzt. Wenn nach dem Versuch, ihn umzustimmen, sein Leben in eine andere Richtung zu lenken, der Wunsch zu sterben geblieben wäre, hätte ich ihn bei erlaubter Sterbehilfe in seinen letzten Minuten begleiten können. Ich hätte mich verabschiedet, seine Hand gehalten, und wir hätten ihn mit all unserer Liebe umgeben und einen Abschied ermöglicht, der nicht einsam und voller Angst hätte sein müssen. Es wäre ein schönerer Tod gewesen.

Menschen werden sich immer selbst töten können, insofern: Natürlich muss Sterbehilfe möglich sein. Wenn Menschen schwerkrank sind, wenn es ihnen einen Abschied in Würde ermöglicht: Natürlich muss Sterbehilfe möglich sein. Es ist nur keine bloße Ja/Nein-Frage. Die Aufhebung der Strafbarkeit löst nicht das Grundproblem, dass so viele Menschen im Alter glauben, es bliebe ihnen nur noch der Tod.

Sterbewillige sind in der Minderheit

Man muss an die Strukturen gehen. Es gibt Menschen, die sich am Ende ihres Lebens sehen. Die wollen sterben. Bei klarem Verstand und durch eigene Hand. Sie sollen es dürfen. Es ist die Minderheit. Das sollte uns dieses Gerichtsurteil nicht vergessen lassen. Selbstbestimmung enthebt uns alle nicht von der Pflicht, zuerst dafür zu sorgen, dass Menschen ein würdiges und ausgefülltes Leben haben. Der Tod ist der letzte Schritt. Er muss es bleiben. (Saskia Jungnikl, 15.12.2020)