Ein Verteilerzentrum von Amazon liegt in Großebersdorf bei Wien. Bei einer Razzia der Finanzpolizei im Februar 2020 stand nicht der Onlineriese selbst im Visier, sondern die Subfirmen, die für Amazon im Großraum Wien die Pakete zustellen.

Foto: APA/HANS KLAUS TECHT

Wien – Alle Jahre wieder. Fast so pünktlich wie das Christkind vor der Tür steht kommt jedes Jahr vor Weihnachten eine Diskussion über die prekären Arbeitsbedingungen seiner Helfer auf das Tapet: der Paketzusteller. Allein die österreichische Post liefert täglich 400.000 Pakete in Österreichs Haushalte – oder probiert es zumindest, obwohl die Konkurrenz immer härter wird. Denn der US-Onlineriese Amazon expandiert in Österreich massiv. So sind im Großraum Wien täglich rund 1.000 Fahrer unterwegs, die von zwei Verteilerzentren aus Pakete für Amazon zustellen.

Unter welchen Bedingungen das passiert, hat der Privatsender Puls 4 recherchiert. In der Reportage "Wer bringt unsere Pakete – Ausbeutung frei Haus?" schlüpft ein "Café Puls"-Reporter undercover einen Tag lang in die Rolle eines Paketzustellers. Ein erster Eindruck davon war am Mittwoch in der Morgensendung "Café Puls" zu sehen, die 50-minütige Doku steht dann am Freitag, 18. Dezember, um 21.30 Uhr auf Puls 24 auf dem Programm.

In der Zustellermühle

Die Fahrer selbst sind nicht bei Amazon angestellt, sondern arbeiten für externe Lieferanten. Wie viele es genau sind, ist unklar. Im Gespräch mit dem STANDARD spricht der Puls-4-Mitarbeiter, der anonym bleiben möchte, von mindestens 15 Subfirmen, die Amazon in Wien engagiert habe. So sehr Amazon mit Schnelligkeit punkten kann, so wenig gehört Transparenz zu den Stärken des US-Unternehmens. Das Credo lautet: Druck.

Zeit ist Geld

Zentrale Drehscheibe des Amazon-Liefersystems ist eine Zustell-App, erzählt der Redakteur: "Sie berechnet anhand von Erfahrungsdaten, wie lange eine Zustellung dauern sollte – und hat damit einen theoretischen Wert." Die Fahrer würden nach dieser Zustellzeit bezahlt. Das Problem dabei? "Wenn die App sagt, du schaffst die Zustellung des Pakets in vier Minuten, der Kunde ist aber nicht zu Hause, der Nachbar macht nicht auf, du stehst zuvor im Stau oder du findest keinen Parkplatz, dann bekommst du diese Arbeitszeit nicht mehr bezahlt." Dementsprechend groß sei der Druck: "Das erklärt, warum manche Pakete nicht richtig zugestellt werden oder einfach vor der Tür landen."

Schnelligkeit wird belohnt

Der Puls-4-Reporter vergleicht das System mit einer Handschelle, die sich immer enger schließe – gespeist von einem eigenen Algorithmus: "Die Fahrer haben Interesse daran, innerhalb dieser Lieferzeit zu bleiben oder, wenn möglich, sogar schneller zu sein. Wenn du eine Neun-Stunden-Tour in acht oder sieben Stunden schaffst, wirst du trotzdem für neun Stunden bezahlt." Sind aber regelmäßig Fahrer schneller, verringere sich die Zeit, die in der App pro Paket vorgesehen sei.

Gegen die eine oder andere dieser Firmen laufen bereits Klagen über die Arbeiterkammer, sagt der Reporter. So sollen beispielsweise Fahrer nur die Zeit von der ersten Paketzustellung bis zur letzten Lieferung bezahlt bekommen haben, nicht aber Tätigkeiten wie Tanken, Transporter holen oder retour bringen. Die Zustell-App komme jedenfalls bei allen Fahrern zum Einsatz. Er könne aber nicht sagen, ob alle nach dem System der theoretischen und nicht der tatsächlichen Arbeitszeit bezahlt werden: "Wir haben aber bei zumindest drei unterschiedlichen Firmen genau denselben Missbrauch festgestellt."

56-Stunden-Woche

Gravierende Verstöße gegen das Arbeitsgesetz habe es auch in "seiner" Subfirma gegeben. Ihren Namen nennen möchte er dennoch nicht. Sie stehe stellvertretend für viele in der Branche. Beim Bewerbungsgespräch wurde ihm ein Gehalt von 1.800 bis 1.900 Euro netto vorgerechnet, allerdings für eine 56-Stunden-Woche: "Weil sie davon ausgehen, dass du von Montag bis Samstag jeweils neun Stunden arbeitest. So verdienst du verhältnismäßig gut. Es kommen aber mehr Überstunden zustande, als bezahlt werden."

Der Mindestlohn liegt laut dem Kollektivvertrag für Paketzusteller bei 1.500 Euro brutto für 40 Stunden. Vor dem Dienstantritt habe er einen Einschulungstag absolvieren müssen – unbezahlt.

Verhaltenskodex, an dem sich Amazon abputzt

"Amazon selbst kann nicht belangt werden", sagt der Journalist. Der Onlineriese und Profiteur der Corona-Krise putze sich einfach ab. Konfrontiert mit der Recherche, wollten Amazon-Verantwortliche dem Reporter kein Interview geben, sondern nur eine schriftliche Stellungnahme: "Amazon verweist darauf, dass das alles Subunternehmer sind, und lässt sich von ihnen einen Verhaltenskodex unterschreiben, dass sie sich an die ethischen Grundwerte halten. Damit sind sie raus." Überprüft wird das nicht.

Der Journalist hat seine Undercover-Tätigkeit nach einem Tag wieder beendet, weil es ansonsten zu heikel geworden wäre. Symptomatisch für die widrigen Arbeitsbedingungen sei ein kleiner Unfall gewesen, den er an diesem Arbeitstag mit seinem Lieferwagen gehabt habe, erzählt er. So sei ein Seitenspiegel abgebrochen. Nachdem er den Schaden gemeldet hatte, lautete die Anweisung des Vorgesetzten: "Weiterfahren, bis alle Pakete ausgeliefert sind." Ein Spiegelbild der Branche. (Oliver Mark, 16.12.2020)