So vergingen die Jahre in der Volksschule. Frau Frey, die Lehrerin, empfahl unseren Eltern, uns zum Gymnasium in die Kreisstadt Frankenberg zu schicken. Daraus wurde aber nichts. Zu weit war der Schulweg. Man musste zunächst mit dem Fahrrad zum Bahnhof in die benachbarte Stadt Battenberg fahren, 3,5 Kilometer entfernt, und anschließend mit dem Zug nach Frankenberg. Dazu kam noch, dass auf Gymnasium die Kinder von Ärzten, Lehrern, Rechtsanwälten, höheren Verwaltungsbeamten und reichen Bauern gingen. Unsere Eltern fühlten, dass wir dort nicht hingehörten. Da Frau Frey aber auf einem Wechsel zu einer weiterführenden Schule bestand, wurden wir zur Mittelschule nach Battenberg geschickt, mein Bruder 1951 und ich 1952. Wir kamen für zwei Jahre in dieselbe Klasse, weil wohl ein Lehrer fehlte.

Inspirierender Lehrer

In den ersten Jahren der Mittelschule hatten wir einen prima Klassenlehrer, Herrn Keller. In allen Fächern, in denen er unterrichtete, machte ich begeistert mit. Ich verstand ihn so gut, dass er nur einen Satz anzufangen brauchte, und ich konnte ihn fast immer ohne Probleme vollenden. Bei ihm hatten wir Deutsch, Mathe, Englisch, Geschichte und Musik, und das heißt vor allem Gesang. Obwohl ich angeblich kein guter Sänger war, sang ich fröhlich mit, wenn er mit uns Frühlings- oder Wanderlieder einübte. Die Gedichte, die wir auswendig lernen mussten, lernte ich gern. Sie öffneten mir eine neue Welt, auch die Literatur, die wir im Unterricht besprachen und zu Hause lesen mussten, begeisterte mich. Meine Mutter allerdings weniger. Wenn wir in der Küche saßen und in einem Buch lasen, schimpfte sie, dass wir lieber im Garten arbeiten sollten, anstatt Romane zu lesen. All unsere Beteuerungen, dass das eine Schulaufgabe war, brachten sie nicht von ihrem Verdacht ab, der manches Mal auch gerechtfertigt war. Durch diesen Lehrer angestoßen, wurde Lesen für mich zu einer lebenslangen Leidenschaft. Für mich stand damals fest, dass ich ein Dichter oder Schriftsteller werden würde. Es kam aber anders.

Ich habe niemals erlebt, dass Herr Keller einem Schüler oder einer Schülerin einen Klaps gegeben oder richtig zugeschlagen hätte. Seine linke Hand war durch eine Kinderlähmung verkrüppelt. Das war aber nicht der Grund für seine Zurückhaltung. Gewalt war für ihn kein Mittel der Erziehung. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung.

Streiche spielen

Manche der älteren Jungen – wir waren anfangs, wie gesagt, mit dem Jahrgang über uns in einer Klasse – nutzten die Toleranz von Herrn Keller aus und spielten ihm manchen Streich. Einer davon war, dass die gesamte Klasse einfach abhaute und der Lehrer keine Schüler hatte. Die trieben sich im nahen Wald herum. Als wir nach dem Ende der Stunde wieder zurückkamen, standen die versäumten Aufgaben an der Tafel. Wir mussten sie zusätzlich zu den üblichen Hausaufgaben bis zum anderen Tag erledigen. Mehr geschah meistens nicht.

Einmal wurde ein solches Fernbleiben für unseren Lehrer sehr unangenehm. Gerade als wir wieder abgehauen waren, kam der Schulrat und wollte unsere Klasse inspizieren. Die war aber nicht da. Bei unserer Rückkehr in die Klasse stand ein wütender Herr Keller im Klassenzimmer und machte uns schwere Vorwürfe. Der Schulrat habe ihm Verletzung der Aufsichtspflicht vorgeworfen und ihn aufgefordert, strenger durchzugreifen. Für den Wiederholungsfall habe er ihm ein Disziplinarverfahren angedroht. Ob wir das wollten und warum? Das wollten wir natürlich nicht. Wir gelobten Besserung. Und wenn künftig jemand vorschlug, wieder einmal abzuhauen, folgte ihm die Klasse nicht mehr geschlossen. Wer dennoch verschwand, musste die Folgen selbst tragen.

Freche Klasse

Als Herr Keller bemerkte, dass wir diesen Unsinn unterließen, schlug er von sich aus öfter eine kurze Wanderung vor oder verlegte den Unterricht nach draußen an die frische Luft. So hatten wir beide Vorzüge in einem. Bei diesen Wanderungen sangen wir all die Lieder, die wir in der Klasse gelernt hatten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir "Aus grauer Städte Mauern ziehn wir durch Wald und Feld". Herr Keller erzählte uns, dass er dieses Lied in seiner Jugend ebenfalls gesungen habe. Sie seien mit Klampfe, Rucksack und Zelt an den Wochenenden losgezogen und hätten im Freien gelebt. Jungen und Mädchen zusammen. Damals hörte ich zum ersten Mal etwas von der Jugendbewegung.

Es ist aber nicht so, dass wir nach den Streichen, die wir Herrn Keller gespielt hatten, nun etwa eine "brave" Klasse geworden wären. Dafür sorgten schon unsere "Anführer". Als Klasse hatten wir keinen guten Ruf, und das wohl zu Recht. Das zeigte sich auch bei folgendem üblen Streich, den wir einer noch sehr jungen Referendarin spielten, die in unserer Doppelklasse Biologie unterrichten sollte. Sie war eine hübsche junge Frau, die oft eine "Lindesbluse" trug, eine blaue Bluse mit weißen Punkten, wie die Packung vom "Lindes Kaffee", einem Malzkaffee, der nur dem Namen nach ein Kaffee war. Den Spitznamen "Lindesbluse" hatte sie von unserer Klasse bekommen. Als sie sich während einer Unterrichtstunde beklagte, sie könne nicht unterrichten, weil wir zu laut und unaufmerksam seien und den Unterricht störten, nahmen sie zwei von den Größeren in die Mitte und sperrten sie trotz heftiger Gegenwehr in den Materialschrank des Klassenzimmers. Sie schrie um Hilfe. Ein Mädchen lief weg und verständigte den Rektor. Als er kam, wurde die arme Frau von anderen Schülern gerade wieder aus ihrem Gefängnis befreit. Sie rannte weinend aus der Klasse. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie bei uns noch einmal Biologie unterrichtet hätte. Dem Streich folgte eine Lehrerkonferenz, die den Anführern einen Eintrag ins Klassenbuch und ins Zeugnis verordnete. Für den Wiederholungsfall wurde Schulverweis angedroht. Es ist nicht dazu gekommen.

Der Autor im Sommer 1957.
Foto: Jozsef Wieszt

Exotisches am Land

Es war der Besuch eines herumreisenden Mannes, der uns lebende exotische Tiere vorführte. Dazu hatte der Rektor der Schule die Erlaubnis erteilt, und alle Schülerinnen und Schüler kamen auf dem Schulhof zusammen, um sich die "wilden Tiere" anzusehen. Ich erinnere mich noch gut an eine mehrere Meter lange Riesenschlange, eine Anakonda aus dem brasilianischen Urwald. Er trug sie über der Schulter, und auch um seinen Hals hatte er sie gewickelt. Wir sahen dem Schauspiel mit angehaltenem Atem zu. Diese Riesenschlange werde bis zu sechs Meter lang, erklärte er. Sie könne ein Schwein oder einen Hirschen in einem Stück verschlingen. Er zeigte uns ein Foto von einer solchen Riesin, aus deren Rücken die Sprossen eines Hirschgeweihs herausragten. Diese habe sich ihre Beute zu groß gewählt, sagte der Tierkundige, und sei daran zugrunde gegangen.

Ein weiteres beeindruckendes Tier war für mich ein Flughund. Es sei eine große Fledermausart aus Argentinien, erklärte uns der Schausteller, die er "Vampir" nannte. Das war für mich ein neues Wort, das mich nach dem Besuch meines ersten "Vampirfilms" einige Jahre später nachts nicht ruhig schlafen ließ. Der Vampir fliege nachts in größeren Schwärmen aus, erläuterte der Tierkundige. Tagsüber hänge er mit dem Kopf nach unten in Bäumen und schlafe. Erst in der Dämmerung beginne er zu jagen. Und was jagt er? "Büffel", sagte der Mann. "Der Vampir beißt sich bei dem Büffel am Hals fest und saugt ihm das Blut aus." Wenn sich mehrere an einem Büffel festbissen, könne es sogar passieren, dass er danach verblute. Ich war äußerst beeindruckt von so einem kleinen Wesen, das einen riesigen Büffel erledigen konnte.

Prügelei mit dem Nazilehrer

Nicht alle Lehrer an der Schule waren so zurückhaltend und verständnisvoll wie Herr Keller. Unser Sportlehrer, der bekannt war für seine Nazisprüche, forderte einen Schüler, der geprahlt hatte, er werde ihn im Boxkampf schlagen, zu einem solchen Kampf heraus. Der Junge, etwa 15 Jahre alt und kräftig gebaut, ließ sich darauf ein. Der Lehrer war schmächtiger als der Junge, aber hager, zäh und ausdauernd.

Der Kampf wurde in einer Freistunde im Keller der Schule ausgetragen. Offiziell war es Boxunterricht, in Wirklichkeit aber eine üble Schlägerei, bei der das Opfer ziemlich bald feststand. Der Schüler versuchte anfangs noch, die Attacken des Lehrers abzuwehren, hatte aber kaum eine Chance dazu. Als ihm das Blut schon aus der Nase lief, fragte ihn der Lehrer, scheinheilig, ob er aufgeben wolle. Trotzig antwortete der Junge: "Nein", und so schlugen sie sich weiter, bis einer von uns zuschauenden Klassenkameraden sagte: "Jetzt reicht es aber." Da besann sich dieser "Pädagoge", der in blinder Wut auf den Jungen eingedroschen hatte, und spielte den besorgten Lehrer. Geglaubt hat ihm das keiner von uns. Der Junge war ein Flüchtlingskind aus Schlesien. Diese Flüchtlinge stellten nach den Ungarndeutschen die zweitstärkste Gruppe in Battenberg und den umliegenden Dörfern. Wir hatten von dem "Boxlehrer" schon abwertende Sprüche über die Flüchtlinge gehört. Sie lägen den ehrlichen Menschen hier nur auf der Tasche und hätten bleiben sollen, wo "der Pfeffer wächst".

Aber nicht nur die Flüchtlinge waren seine selbst gewählten Feinde. Verächtlich redete er auch von Juden und "Negern". Besonders die "Niggermusik", die man "Jazz" nenne, war ihm äußerst zuwider. Er erzählte uns von einem Auftritt einer Ella Fitzgerald vor "Amis" in Nürnberg, der im Radio übertragen worden war. Sie hätte unglaublich schauderhafte Lieder von sich gegeben, eben richtige "Niggermusik". Das Beste für ihn sei gewesen, dass das Radio auch einen Knopf zum Abstellen habe. Ohne dass er es wusste, hatte er mir einen Begriff geliefert, der für viele Jahre meinen Musikgeschmack bestimmte: Jazz.

Schrecklicher Übergriff

Herr Keller bekam dann leider, ein gutes Jahr, bevor ich die Mittelschule beenden konnte, ein Problem. Mit uns zusammen hatte er im Keller der Schule Karneval gefeiert. Dabei war auch von den Schülern mitgebrachter Alkohol getrunken worden. Es gibt Fotos von dieser Feier, mit ausgelassenen jungen Menschen darauf, fröhlich, lustig, aufgeregt. Aber keine Exzesse sind zu erkennen. Die waren auch nicht das Problem, obwohl eine solche Feier mit Alkohol damals in einer Mittelschule ungewöhnlich und eigentlich verboten war.

Es soll während der Feier etwas vorgefallen sein, von dem wir gerüchteweise erst erfuhren, nachdem unser Klassenlehrer sehr kurzfristig aus disziplinarischen Gründen versetzt worden war. An einem Mädchen habe er sich vergriffen, hieß es, er soll ihren Busen angefasst haben. Sie war die Tochter eines Managers in einem nahe gelegenen Industriebetrieb. Ihr Vater soll darauf bestanden haben, dass seine Tochter nicht mehr von diesem Mann unterrichtet werde. So verlor ich einen Lehrer, den ich bewunderte und verehrte und der auch mir sehr zugetan war.

Der Marzipanliebhaber

Bei seinem Nachfolger verlor ich innerhalb des noch verbleibenden Jahres in vier Fächern meine Eins. Im Anschlusszeugnis blieben nur noch zwei Einsen übrig. Von diesem Herrn B. ist mir hauptsächlich erinnerlich, dass er sich bei einem Versandhandel kiloweise Marzipan bestellte. Die Pakete übergab ihm der Postbote während einer Pause auf dem Schulhof. Die Gier dieses Menschen nach dieser bittersüßen Masse war so groß, dass er seine Sendung vor unseren Augen aufriss und das Marzipan aß. Weil wir ihm dabei auch sehr begierig zusahen, verteilte er davon etwas an uns. Nach dieser Pause hat er oft nur die Hälfte seines Marzipans mit in die Klasse genommen.

Von den Schulfächern hatte ich am liebsten Deutsch, Heimatkunde/Geografie, Englisch und Musik. In Deutsch liebte ich am meisten den Literaturunterricht, der meinem zum Träumen neigenden Charakter und meiner regen Fantasie sehr zusagte. Herr Keller behandelte klassische und moderne Schriftsteller und eröffnete mir bis dahin ungeahnte Dimensionen. Einer der modernen Schriftsteller war James Thurber. Wir lasen seine 1939 erschiene Erzählung "The Secret Life of Walter Mitty". Ich war begeistert von dem Träumer Walter Mitty, der sich bei den Autofahrten mit seiner enervierenden Ehefrau hinüberträumte in seine Zeit als Jagdflieger in Frankreich. Dabei summte er das beliebte Soldaten- und Kinderlied "Auprès de ma blonde" vor sich hin. Begeistert sangen wir den Refrain: "Auprés de ma blonde qu'il fait bon fait bon dormir, Auprés de man blonde qu'il fait bon dormir". Herrn Keller schien es verständlich, dass 15- und 16-jährige Jungen sich dafür begeisterten, bei einer Blonden zu schlafen.

Kabale und Liebe

In die Zeit der Mittelschule fielen meine Pubertät und auch meine erste Schülerliebe. Sie war ein flottes, selbstbewusstes Mädchen und ich dummerweise ein schüchterner Junge, wenn es darum ging, wirkliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Und so konnte diese Liebe für mich nur unglücklich werden, zumal die Auserwählte in einen Jungen der nächsthöheren Klasse verliebt war. Ich war damals 14 oder 15 Jahre alt und litt ungemein unter dieser Nichtachtung. Regelrecht körperliche Schmerzen waren das. Ich versuchte, ihr Briefchen zuzustecken, ihr eine Botschaft über eine Klassenkameradin zukommen zu lassen. Aber es nützte nichts, sie hatte nur Augen für den anderen. Die Mädchen in unserer Klasse beneidete ich wegen ihrer Umgangsformen miteinander. Verglichen mit dem ruppigen Gehabe der Jungen war ihr Umgang geradezu intim. Sie tuschelten und kicherten zusammen, umarmten und drückten sich, sangen öfter und übten gemeinsam irgendwelche Tanzschritte. Sie waren insgesamt viel fröhlicher als die Jungen. Reifer als wir waren sie auch.

Einer, den wir "Gökus" nannten, verfolgte meinen Bruder und mich ständig mit irgendwelchen Gemeinheiten. Er boxte uns, kniff uns in die Arme und nahm uns in den Schwitzkasten. Er konnte das mit uns machen, denn er war stärker als jeder Einzelne von uns beiden. So beschlossen wir, uns für diese Demütigungen gemeinsam zu rächen. Wir lauerten ihm nach der Schule auf, um ihn zu verdreschen. Er kam übermütig heranspaziert und machte eine höhnische Bemerkung von der Art: "Na, wollt ihr 'ne Abreibung?" Wir stürzten uns ohne Vorwarnung wütend auf ihn und droschen auf ihn ein. Es entstand ein wüstes Getümmel und bald bluteten wir alle drei. Wir hatten ihn aber schließlich fest im Griff und drückten ihn mit dem Gesicht in die Erde. Er musste schwören, uns künftig in Ruhe zu lassen, sonst könne er jederzeit wieder so eine solche Abreibung kriegen. Er schwor es, und wir ließen ihn los. Blutig und verdreckt fuhren wir mit unseren Rädern nach Hause und freuten uns unseres Sieges. Künftig hat er keinem von uns je wieder etwas zuleide getan. Einigkeit macht stark.

Ernst des Lebens

Mit Abschluss der zehnten Klasse endete für uns die Mittelschule. Wir verließen sie mit relativ guten Zeugnissen. Nun wartete der "Ernst des Lebens" auf uns junge Burschen von 17 beziehungsweise 18 Jahren. Unsere Wege trennten sich. Ich begann eine Ausbildung bei der Polizei im Nachbarland Nordrhein-Westfalen. Mein Bruder fing eine Lehre als Werkzeugmacher an. Nach ungefähr vier Jahren saßen wir wieder gemeinsam auf der Schulbank, um auf dem Hessenkolleg in Kassel das Abitur nachzumachen. (József Wieszt, 24.12.2020)