Das wohl meisterwartete Videospiel seit vielen Jahren ist am 10. Dezember 2020 endlich erschienen.

Foto: CD Projekt Red/Screenshot

Jahrelang warteten Fans voller Sehnsucht darauf und bescherten den Entwicklern bereits acht Millionen Vorbestellungen, als der Release noch nicht annähernd abzusehen war – aus Vertrauen in die polnische Spieleschmiede CD Projekt Red, die für die hochgepriesene Witcher-Serie verantwortlich ist. Die Rede ist von Cyberpunk 2077, dem wohl ambitioniertesten Rollenspiel seit langer Zeit – das seit dem Release am 10. Dezember gleichzeitig für Begeisterung und verbitterten Frust bei Millionen Fans sorgt. DER STANDARD konnte das Spiel auf der Xbox Series X testen.

Cyberterrorismus

Als V, ein Söldner für Night Citys zahlreiche Fixer, taucht man direkt zum Start in die stimmungsvolle Spielwelt ein. Lichteffekte, Soundtrack und großartig geschriebene Dialoge begleiten einen ab der ersten Minute durch die Story und die zahlreichen, liebevoll gestalteten Nebenmissionen.

Der Rocker Johnny Silverhand ist Vs ständiger Begleiter.
Foto: CD Projekt Red

Worum es geht, ist dabei schnell gesagt: Nach einem langen, richtungsweisenden Prolog landet man in der frei erkundbaren Megalopolis Night City: Mit Johnny Silverhands Persönlichkeitskonstrukt im eigenen Kopf gefangen, nimmt man sich allerlei Missionen an, lernt neue Charaktere kennen oder erforscht die facettenreiche Spielwelt.

Der unverwechselbar nach Keanu Reeves modellierte und von ihm gesprochene Ex-Rocker und Terrorist Johnny Silverhand begleitet den Spieler dabei durch fast alle Erlebnisse. Von V abgesehen, könnte man ihn als den für die Story wichtigsten Charakter beschreiben.

Eine dystopische Megacity

Lässt einen das Spiel nach ein paar Stunden erstmals von der Hand, wird der wahre Umfang der Produktion deutlich. Während man durch die breiten Straßen und teils verwinkelten Gassen Night Citys streift, bombardieren einen nicht enden wollende Eindrücke. Denn den Entwicklern ist es gelungen, eine glaubhafte Zukunftsgesellschaft im dystopischen Cyberpunk-Universum zu erschaffen. Die ständige Reizüberflutung und der bittere Kontrast zwischen den Gesellschaftsschichten sind dabei allgegenwärtig.

Überlebensgroße Neon-Reklametafeln flimmern an den Fassaden der glanzvollen Hochhäuser, während man stets nur wenige Schritte von den Slums der Megalopolis entfernt zu sein scheint, wo einem das Elend der Unterschicht vor die Füße geworfen wird. Egal ob zu Fuß oder in einem der zahlreichen Fahrzeuge: Unterwegs kann man nicht umhin, die Vielfalt und das Detailreichtum von Night City zu bestaunen – zumindest fast immer.

Wird man das erste Mal in die Freiheit entlassen, weiß die Spielwelt schnell zu begeistern.
Foto: CD Projekt Red/Screenhot

Telefon für dich – immer

Der treueste Begleiter – abgesehen vom vorlauten Johnny Silverhand – ist wohl das eigene Telefon, denn Missionen, aufgeteilt in Haupt-, Nebenmissionen und sogenannte Aufträge, werden dem Spieler konstant per Anruf auf dem Silbertablett präsentiert. Betritt man zum Beispiel ein neues Gebiet, rufen V lokale Fixer mit neuen Auftragsangeboten an, man fängt vereinzelt Polizeinotrufe ab oder wird von diversen NPCs kontaktiert, die scheinbar unbedingt mit einem zusammenarbeiten wollen. Fad wird einem so zwar nicht, warum man in der Stadt so heißbegehrt ist, wird allerdings nie so richtig aufgeklärt.

Zudem leidet unter dieser Quest-Struktur auch der Reiz, die Stadt auf eigene Faust auf der Suche nach spannenden Ereignissen und Charakteren beziehungsweise Missionen zu durchforsten. Allerdings fällt während des Spielens der Konsolenversion immer wieder auf: Allzu viel ist aufgrund technischer Einschränkungen der Plattformen auf den Straßen nicht los. Das ist eigentlich schade, bedenkt man die sonst beeindruckende Umgebung.

Doch leider scheinen die Straßen teilweise leergefegt, sowohl von Passanten als auch Autos. Zwar stolpert man mitunter zufällig über Missionen, doch nimmt einem die Leere zwischenzeitlich den Reiz, die Welt zu erkunden. Viel eher kommt es immer wieder so vor, dass man inmitten einer Unterhaltung einen Anruf mit weiteren Missionsdetails erhält und plötzlich gezwungen ist, mehrere Konversationen parallel zueinander zu führen. Die Auswahl der korrekten Antwort wird deshalb mitunter unmöglich.

Zwischenzeitlich wirkt die Spielkarte, von der hier ein Ausschnitt zu sehen ist, schon fast überladen.
Foto: CD Projekt Red/Screenhot

Eine Frage, zahlreiche Antwortmöglichkeiten

Sobald man allerdings in eine der vielen detailliert ausgearbeiteten Haupt- oder Nebenmissionen eintaucht und all die Charaktere kennenlernt, die einem im Laufe der Zeit immer mehr ans Herz wachsen, wird die größte Stärke des Spiels offensichtlich: Storytelling. Cyberpunk 2077 lässt die Spieler Geschichten miterleben, die hinreißen. Dabei umfassen selbst Nebenmissionen teils mehrere Akte, die mitunter enorme Auswirkungen auf die Spielwelt und das weitere Gameplay haben können.

In Konversationen hat man stets die freie Wahl der Antworten, von der Wortwahl kann oft abhängen, wie die Missionen weiterverlaufen. So kann die "falsche" Reaktion sehr schnell einen Kampf auslösen, obwohl man diesen möglicherweise mit Leichtigkeit verhindern könnte, wenn man denn höflich genug wäre.

Xbox

Mit sehr guten Sprechern – sogar die deutsche Sprachausgabe kann sich für Branchenverhältnisse hören lassen – und authentisch wirkenden Charakteren kann man nicht anders, als stets wissen zu wollen, wie sich die Geschichten weiterentwickeln. So wird man schnell in einen Bann gezogen, der nicht enden wollend scheint.

Cyberpunk und Cyberware

Dabei hat man zahlreiche Möglichkeiten der Anpassung, um Vs Stärken an den ganz persönlichen Spielstil anzupassen. Während anfangs das eher weniger intuitive Gunplay negativ ins Auge springt, merkt man erst nach ein paar Levels so richtig, was möglich ist. So kann man zum Beispiel mit "Power-Waffen" durch die Deckung der Gegner hindurchschießen oder mit "Smart Weapons" Ziele dank Zielsystem um die Ecke herum anvisieren. Zielgeleitete Projektile erledigen dann den Rest. Dass die Shooter-Mechanik dabei nicht allzu leicht von der Hand geht, kann dadurch zwar relativiert werden, hinkt aber im Vergleich zu anderen First-Person-Spielen deutlich hinterher.

Begleitet wird das Ganze von einem Levelsystem, das einem je nach Spielstil die Möglichkeit gibt, Punkte in fünf verschiedene Kategorien – nämlich Konstitution (Körper), Reflexe, technische Fähigkeiten, Intelligenz und Coolness – zu stecken. Innerhalb jeder einzelnen kann der Spieler wiederum Vorteilspunkte für weitere Spezialisierung und die Verbesserung bestimmter Fähigkeiten anwenden. Dies mag im ersten Moment etwas unübersichtlich und überladen wirken, gibt jedoch unglaublich detaillierte Möglichkeiten der individuellen Anpassung.

Die Fähigkeiten können in Rollenspiel-Manier nach Wunsch des Spielers individuell ausgebaut werden.
Foto: CD Projekt Red/Screenhot

Investiert man zum Beispiel möglichst viele Punkte in Intelligenz, um ein möglichst effektiver Hacker zu sein, muss man mitnichten auf andere Fähigkeiten verzichten – denn durch die bloße Nutzung unterschiedlicher Fähigkeiten, zum Beispiel Schleichen, levelt man auch diese auf.

Nur ein Port?

Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass das User-Interface – zumindest für Konsolenspieler – nicht optimal gestaltet wurde. In Menüs muss man trotz Controller-Nutzung einen Maus-Cursor bewegen, um Perks und Gegenstände im Inventar auszuwählen. Zwischendurch bekommt man so das Gefühl, dass es sich eigentlich um ein für den PC entwickeltes System handelt, das für die Konsolen schlicht eins zu eins übernommen wurde.

Der (fehlerhafte) Elefant im Raum

So sehr das Spiel an sich auch begeistern kann, darf man nicht die zahlreichen Probleme unter den Teppich kehren, mit denen das Spiel seit Launch zu kämpfen hat. Während Cyberpunk 2077 sogar PCs mit Top-Ausstattung in die Knie zwingt, ist das Spiel mit der Basisversion der PS4 und Xbox One quasi unspielbar. Die Kritik war so laut, dass CD Projekt Red Konsolenspielern nun sogar eine Rückerstattung des Kaufpreises anbietet.

Aber auch während des Tests auf einer Xbox Series X blieb DER STANDARD nicht von den zahlreichen Bugs verschont. Auch nach Installation des Hotfixes stürzte das Spiel mehrmals in Situationen ab, die eigentlich keine besonders hohe Leistung fordern sollten. Nervige Fehler zwingen einen außerdem immer wieder zum Neuladen von älteren Spielständen, weil das Weiterspielen sonst unmöglich wäre.

Wohl eher eine Kleinigkeit: Silverhands Zigarette schwebt mitten im Gespräch in der Luft, statt zwischen seinen Fingern zu stecken.
Foto: CD Projekt Red/Screenhot

Missionen sind zudem immer wieder gespickt von schnell aufeinanderfolgenden Ladesequenzen. Zwar sind diese aufgrund des schnellen Speichers der Next-Gen-Konsolen erträglich, für PS4 und Xbox One dürften sie hingegen für Frust sorgen.

Dass enttäuschten Konsolenspielern immer wieder an den Kopf geworfen wird, dass eine so fordernde Produktion natürlich nicht auf sieben Jahre alten Geräten laufen könne, entbehrt unterdessen der Berechtigung und schiebt den Konsumenten die Schuld für das Versagen eines Konzerns in die Schuhe.

Bedenkt man nämlich, dass zum Zeitpunkt der Ankündigung von Cyberpunk 2077 noch keine Rede von einer Xbox Series X und der PS5 war, muss Kritik an CD Projekt Red laut werden. Bisher gibt es noch keine Next-Gen-Version, viel eher werden Käufer zum Kauf einer neuen Konsole genötigt, um ein für andere Geräte vermarktetes Produkt genießen zu können. Bedenkt man zudem die Tatsache, dass Tester vor Veröffentlichung nur die PC-Version spielen durften, legt das den Vorwurf nahe, dass die Entwickler Millionen Fans in die Irre geführt haben.

Fazit

Nichtsdestotrotz bietet Cyberpunk 2077 Rollenspiel-Fans ein großartiges, tiefgründiges Spielerlebnis. Hat man Glück oder kann über die zahlreichen Kinderkrankheiten und Stabilitätsprobleme hinwegsehen, erwartet Spieler eine faszinierende Welt im Cyberpunk-Universum, überzeugend geschriebene Charaktere und detailreich inszenierte Geschichten, die für viele Stunden Unterhaltung sorgen.

Den Besitzern der Basisversion einer PS4 oder Xbox One muss ans Herz gelegt werden, einen großen Bogen um das Spiel zu machen – zumindest bis die Entwickler die tatsächliche Spielbarkeit garantieren können. Ein Problem, das derzeit so tiefgreifend zu sein scheint, dass Sony das Spiel inzwischen aus dem Playstation Store entfernt hat. (Mickey Manakas, 19.12.2020)