Rundes Gesicht, zwei Augen, Nase und Mund: Dieses Grundmuster lernen Babys ab dem ersten Lebensmonat. Es gibt Menschen, die das nicht können. Sie haben ein Problem im visuellen Cortex des Hinterhauptlappens.

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Mit Schutzmasken vermummte Menschen prägen in Zeiten von Corona das Straßenbild. Immer wieder fällt auf, wie knifflig es ist, ein Gesicht unter der Maske zu erkennen. Doch auch ohne eine solche zusätzliche Herausforderung müssen die grauen Zellen in Sachen Gesichtserkennung eine erstaunliche Leistung erbringen. Das Gesicht hat eine komplizierte dreidimensionale Form, und viele Gesichter sehen sich ziemlich ähnlich. Nichtsdestotrotz haben Menschen die Fähigkeit entwickelt, Antlitze schnell, genau und mit scheinbar geringem Aufwand zu erkennen.

Tatsächlich kann sich ein Mensch nach jüngsten Schätzungen im Schnitt etwa 5.000 Gesichter merken und wiedererkennen. Manche Menschen wären allerdings schon froh, wenn sie auch nur ein paar Gesichter wiedererkennen könnten. So wie die Künstlerin Carlotta, die Protagonistin in dem Dokumentarfilm "Lost in Face". Carlotta gehört zu den 2,5 Prozent der Bevölkerung, die massive Probleme beim Erkennen von Gesichtern haben, selbst wenn es sich um Antlitze ihrer Bekannten handelt. Denn Carlotta leidet unter Gesichtsblindheit, auch Prosopagnosie genannt.

Wie graue Zellen arbeiten

Gedreht hat den Film der Arzt und Neurowissenschafter Valentin Riedl, der am Uniklinikum Rechts der Isar in München die Funktionsweise des menschlichen Gehirns erforscht. Als er im Rahmen einer Ausstellung der Künstlerin erfährt, dass Carlotta nicht einmal ihr eigenes Gesicht erkennt und dennoch Selbstporträts von sich erstellt, ist er von dem Thema gepackt.

Doch wie erkennen grauen Zellen überhaupt Gesichter? "Informationen von der Netzhaut werden im hinteren Teil des Gehirns verarbeitet", sagt Riedl. "Auf der ersten Ebene werden im visuellen Cortex im Hinterhauptslappen ganz einfache Merkmale wie Linien und Kanten von Gegenständen verarbeitet." Dann werden die Informationen im Gehirn weitergeleitet, es werden Farben erkannt und nach und nach komplexere Objekte verarbeitet. Eines dieser komplexeren Objekte ist das Gesicht. "Sobald ein Objekt eine kreisrunde Form hat wie ein Smiley, mit einem Strich und zwei Punkten wie Mund und Nase, dann springt das fusiforme Gesichtsareal im Gyrus fusiformis an, die Gesichtsregion im Gehirn."

Carlotta kann die Gesichter von Tieren auseinanderhalten. Sie merkt aber nicht, wenn sie auf einem Bild einen Affen und nicht einen Menschen sieht. "Das spricht dafür, dass das fusiforme Gesichtsareal wirklich nur auf eine Gesichtsstruktur wie bei Primaten anspricht", sagt Riedl. Also auf eine kreisrunde Gesichtsform, bei der die Augen vorne liegen. "Ist das Gesicht hingegen länglich und die Augen liegen an der Seite, wie beispielsweise bei Pferden, reagieren andere Areale des Gehirns." Deswegen kann Carlotta wahrscheinlich auch die Gesichter von anderen Tieren als Affen auseinanderhalten, weil hier eben nicht das fusiforme Gesichtsareal gefragt ist.

Visuelle Verarbeitung

Allerdings sei bei der Gesichtserkennung nicht nur das fusiforme Gesichtsareal, sondern ein ganzes Netzwerk beteiligt, ergänzt der Neurologe Eugen Trinka. Er ist Leiter der Universitätsklinik für Neurologie an der Christian-Doppler-Klinik in Salzburg. Es gebe Faserverbindungen vom Hinterhauptslappen – in dem, wie erwähnt, visuelle Informationen aus den Augen abgebildet werden – zum Schläfenlappen. Dabei handelt es sich um den sogenannten "Was-Pfad". Er dient dazu, einen Gegenstand oder eben ein Gesicht zu erkennen. "Auf dem Was-Pfad werden die visuellen Informationen mit den Gedächtnisinhalten abgeglichen, also geprüft, ob das aktuell wahrgenommene Gesicht bekannt ist", so Trinka. Und eine Untersuchung von Alexander Cohen vom Boston Children's Hospital und seinen Kollegen aus dem Jahr 2019 legt nahe: Neben dem Was-Pfad auf der rechten Seite des Gehirns spielt auch der linke Frontallappen eine wichtige Rolle in diesem Netzwerk – auch wenn seine genaue Rolle noch unklar ist.

Da es bei der Gesichtserkennung unterschiedliche Akteure im Gehirn gibt, kämpfen Menschen je nach dem Ort der Hirnschädigung durch einen Unfall oder einen Schlaganfall mit verschiedenen Formen der Gesichtsblindheit. Bei der einen Variante können die Betroffenen keine Einzelteile des Gesichts erkennen, weil das Gesichtsareal im Gyrus fusiformis geschädigt ist. "Bei der anderen Variante können die Betroffenen zwar schon einzelne Teile des Gesichts erkennen – etwa erfassen, dass ein Mensch eine große oder kleine Nase hat", sagt Trinka. "Sie können solche Merkmale aber keiner Person zuordnen, weil bei ihnen der Schläfenlappen geschädigt ist, der einen Abgleich mit bereits bekannten Gesichtern macht."

In den Genen

Neben diesen Fällen von erworbener Gesichtsblindheit gibt es auch eine angeborene Variante, die einen genetischen Hintergrund hat. "Sie dürfte sich wohl autosomal-dominant vererben. Es gibt also in jeder Generation Träger dieses Merkmals", sagt Trinka. Valentin Riedl ist davon überzeugt, dass es daneben auch leichte Fälle von Gesichtsblindheit gibt. "Freunde haben mir im Zuge des Dokumentarfilms erzählt, dass sie Schwierigkeiten haben, beispielsweise verschiedene blonde Frauen in einem Film auseinanderzuhalten." Riedl selbst erkennt oft Menschen nicht wieder, die er sehr lange nicht gesehen hat. "Da werde dann eher ich von ihnen angesprochen." Die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, sei ein Kontinuum.

Das eine Extrem bilden Menschen mit einer starken Gesichtsblindheit. Das andere Extrem bilden sogenannte Super Recognizer. "Sie erkennen auch eine Supermarktkassiererin wieder, die sie ein einziges Mal vor zehn Jahren gesehen haben", so Riedl. Um ihre Defizite zu kompensieren, greifen Betroffene mit starker Gesichtsblindheit auf Umgehungsstrategien zurück. Sie erkennen Menschen auf anderen Wegen: über die Körperhaltung, Bewegung, Kleidung und Sprache. Eugen Trinka kennt das in Ansätzen aus eigener Erfahrung. "Da ich sehr kurzsichtig bin, erkenne ich Menschen aus der Distanz nicht an ihrem Gesicht. Aber sie lassen sich gut an ihrer Körperhaltung identifizieren."

Defizit kompensieren

Die Künstlerin Carlotta selbst nutzt eine traditionelle Art der Lithografie für ihre Selbstporträts. Im Dunklen ertastet sie mit einer Hand ihr Gesicht und überträgt das Gefühlte auf das Papier. Wirkliche Therapiemöglichkeiten gibt es im Falle der starken Gesichtsblindheit nicht. Prosopagnosie gilt auch nicht als eine Erkrankung, sondern lediglich als ein kognitives Störungsbild. "Menschen mit angeborener Gesichtsblindheit gelten als gut integriert", sagt Trinka.

"Aber für mich stellt sich schon die Frage, ob die Personen ihre Defizite wirklich zu hundert Prozent kompensieren können. Oder ob sie nicht doch unter Einschränkungen im sozialen Bereich leiden." Vor allem, wenn man die Gesichtsblindheit schon bei einem Kind erkennen würde, könnte man etwas tun, indem man mit ihm das Erkennen von Gesichtern trainiert. "Man sollte in diese Richtung mehr Forschung betreiben." (Christian Wolf, 16.1.2021)