Einem Friseursalon, der im ersten Lockdown schließen musste, wurde die Miete für sechs Wochen erlassen.

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Als erstes Gericht in Österreich hat das Bezirksgericht (BG) Meidling innerhalb kurzer Zeit gleich zwei Entscheidungen zu Paragraf 1104 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB), der eine Erlassung des Mietzinses in Notsituationen vorsieht, im Zusammenhang mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 gefällt. Fast erwartungsgemäß wurde jeweils zugunsten des Mieters entschieden. Auch wenn gerade in Bezug auf Paragraf 1104 ABGB eine rasche Entscheidung zu begrüßen ist, bleibt höchst zweifelhaft, ob die vorliegenden Urteile geeignet sind, den Druck aus den vielerorts laufenden Verhandlungen zwischen Mietern und Vermietern zu nehmen.

Die beiden Urteile

In beiden Verfahren (9 C 368/20b und 9 C 361/20y) hat das BG jeweils einen Anspruch auf Mietzinszahlung durch den Mieter verneint. Die Mieter – ein Friseursalon und ein Modegeschäft – waren daher von der Mietzinszahlungspflicht im Zeitraum vom 16.3.2020 bis 30.4.2020 befreit. In ihren Begründungen führte die Richterin im Wesentlichen aus, dass aufgrund der Covid-19-Situation Paragraf 1104 ABGB anwendbar sei und mangels anderer Möglichkeiten, die Bestandobjekte zu nutzen, auch kein Raum für eine Mietzinsreduktion gegeben sei – und somit gänzliche Unbrauchbarkeit vorliegt.

Unter anderem wurden die Entscheidungen damit begründet, dass Kunden in der Zeit des Lockdowns die Geschäftslokale nicht betreten konnten. Mögliche Alternativumsätze durch Onlinehandel blieben unberücksichtigt, da keine Onlineshops von den Mietern betrieben wurden. Auch ein Werbeeffekt wurde verneint, weil Einkaufsstraßen im April 2020 kaum besucht waren. Auch einen allfälligen Nachholeffekt erachtete das Gericht als unerheblich.

Paragraf 1104 ABGB lautet: "Wenn die in Bestand genommene Sache wegen außerordentlicher Zufälle, also Feuer, Krieg oder Seuche, großer Überschwemmungen, Wetterschläge, oder wegen gänzlichen Misswachses gar nicht gebraucht oder benutzt werden kann, so ist der Bestandgeber zur Wiederherstellung nicht verpflichtet, doch ist auch kein Miet- oder Pachtzins zu entrichten."

Keine Auseinandersetzung mit der aktuellen Literatur

Die beiden Entscheidungen sind aus mehreren Gründen bemerkenswert: Zwar ist notorisch, dass österreichische Gerichte das Mietrecht sehr weit zugunsten von Mietern auslegen. Im vorliegenden Fall hätte man sich doch zumindest in der Begründung der Urteile eine Auseinandersetzung mit der Rechtslage und den mittlerweile zahlreichen divergierenden Literaturmeinungen zu einem mehr als 200 Jahre alten Gesetz und einer in der jüngeren Geschichte noch nie dagewesenen Notsituation erwarten dürfen. Stattdessen wird in den Begründungen – die im Übrigen in beiden Verfahren nahezu wortgleich lauten – ausschließlich auf solche Fachbeiträge verwiesen, die eine eindeutig mieterfreundliche Position einnehmen.

Eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen und gewichtigen Gegenstimmen in der Literatur – eine einschlägige Judikatur existiert nicht – werden nicht einmal erwähnt, so als gäbe es sie gar nicht. Aber genau das Abwägen der Für und Wider aller Rechtsmeinungen wäre notwendig gewesen, um den Urteilen eine Tragfähigkeit schon in der ersten Instanz zu verleihen.

Ungeeignete Parallele zum Zweiten Weltkrieg

Offenkundig werden nämlich zentrale Problembereiche gar nicht behandelt: Die alles entscheidende Frage, ob tatsächlich ein Fall des Paragrafen 1104 ABGB vorliegt, wird auf die einfache Begründung, dass Covid-19 schließlich eine Seuche sei, reduziert – und auch noch eine völlig ungeeignete Parallele zu einer vereinzelt gebliebenen Entscheidung gezogen, wonach bei einem von einer fremden Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg besetzten Geschäftslokal schließlich auch kein Mietzins zu zahlen gewesen sei.

Der Vergleich hinkt jedoch schon bei ganz oberflächlicher Betrachtung gewaltig. Während ein von einer fremden Militärmacht besetztes Geschäftslokal aufgrund dieser "Besetzung" natürlich unmittelbar betroffen ist (und zwar unabhängig vom betriebenen Gewerbe), ist diese Situation bei Covid-19 doch völlig anders: Weder der Frisiersalon noch das Modegeschäft waren unmittelbar von der grassierenden Pandemie betroffenen, sondern von den behördlich verordneten Betretungsverboten. Ein Vergleich wäre nur dann gerechtfertigt, wenn das Bestandsobjekt selbst verseucht und daher nicht brauchbar wäre. Auf diesen entscheidenden Unterschied wurde leider nicht eingegangen.

Dass das Betretungsverbot nicht ein Fall des Paragrafen 1104 ABGB, sondern des Paragrafen 1107 ABGB ist, wird auch bereits durch die noch stärkere Unterscheidung zwischen körpernahen und anderen Dienstleistungen im zweiten Lockdown deutlich, und das liegt ja wohl in der Sphäre des Mieters.

Erwähnenswert ist letztlich, dass beide Urteile durch dieselbe Richterin gefällt wurden. Der Eindruck, dass sich daher gerade eine Judikaturlinie entwickelt, ist somit trügerisch.

Urteile schaffen keine Rechtssicherheit

Die mangelnde Stichhaltigkeit der Begründungen der Urteile ist daher – bedenkt man deren immense Tragweite – nicht geeignet, Rechtssicherheit zu schaffen, sondern trägt genau zum Gegenteil bei: Es ist nun mit einer Klagslawine zu rechnen, weil sich Mieter zu Recht gestärkt fühlen. Letztlich ist damit aber nur die Entscheidung vertagt und die Freude der Mieter verführt. Vom Obersten Gerichtshof dürfen wir eine ausführliche und inhaltliche Auseinandersetzung mit dem gesamten Meinungsstand erwarten.

Zudem sind nach wie vor viele Aspekte unbehandelt, darunter die Auswirkungen des Betriebs von Onlineshops durch Mieter, der Restbrauchbarkeit eines Objektes zu Lagerzwecken, der Zulässigkeit des vertraglichen Ausschlusses von Paragraf 1104 ABGB oder von Staatshilfen für Mieter. (Mark Krenn, 19.12.2020)