Reichlich holprigen Wortwitzes bediente sich vergangene Woche das britische Boulevardblatt "Daily Mail", um den Britinnen und Briten einen möglichen No-Deal-Brexit schmackhaft zu machen. Unter dem Motto "flex your mussels" sollten sie den heimischen Fischern pünktlich zu Weihnachten einen "massiven Auftrieb" bescheren. Man verfüge in Großbritannien schließlich über mehr als genug Fisch, Dorsch etwa, Makrelen und – nicht zuletzt – Muscheln. Es muss ja schließlich nicht immer das teure, aus fernen Gewässern stammende Sushi sein. Ob es so weit kommt, war am Freitag ungewiss. Fest stand einzig: Die Zeit drängt.

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Die Fischerei im Ärmelkanal – ein Knackpunkt zwischen Brüssel und London.
Foto: REUTERS/Pascal Rossignol

"Es ist die Stunde der Wahrheit", stellte EU-Chefunterhändler Michel Barnier am Freitag in Brüssel der britischen Seite ein neues, womöglich letztes Ultimatum. Und: "Wir haben nur sehr wenig Zeit." Noch, so der Franzose, der im Jänner eigentlich in Pension gehen wollte, gebe es eine Chance, sich zu verständigen. "Der Pfad zu so einer Einigung ist aber sehr schmal." Deswegen müsse sich die EU auf alle Eventualitäten einstellen. Also auch auf einen No-Deal. Doch: "Niemand will vom Tisch aufstehen", sagte ein mit den Verhandlungen Vertrauter dem STANDARD.

Es war ein Wechselspiel aus Licht und Schatten, das sich dem Publikum in der vergangenen Woche bot: Hatten die beiden Delegationen zwischendurch ein "Licht am Ende des Tunnels" erkennen lassen, verhärteten sich die Fronten am Freitag zusehends.

Am Sonntag, so stellte die EU-Kommission unmissverständlich klar, müsse man zu einer Entscheidung kommen. Ein weiterer Aufschub, eine Verlängerung der Übergangsperiode, all dies sei nicht mehr möglich, hieß es aus Brüssel.

Der Druck steigt

Vier Jahre nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien und zehn Monate nach dem Ausstieg des Landes aus der Union wird es nun also ernst. Punkt Mitternacht zu Silvester endet die Phase, in der das Königreich noch EU-Regeln anwenden muss. Danach drohen im Fall eines No-Deals Chaos, höhere Zöllen auf viele Produkte sowie lange Wartezeiten an der See-, Luft und Landgrenze. Vorbeugend hat das Europaparlament am Freitag schon einmal Notfallmaßnahmen für den Fall der Fälle zugestimmt, und zwar in den Bereichen Fischerei, Flugsicherheit, sowie Flug- und Straßenverkehr.

Vielleicht wird es die Notfallpläne aber nicht brauchen, wenn EU und Großbritannien es doch noch schaffen zueinander zu finden. Doch gerade die Themen Fischfang und faire Handelsbedingungen sollten sich Stunden vor Ende der Frist als heikelste Causen der – Stand Freitag – vorerst letzten Verhandlungsrunde zwischen London und der EU entpuppen.

Vor allem Frankreich, neben den Niederlanden, Belgien und Dänemark ein "big player"der EU-Fischindustrie, fährt gegenüber Londons Flotten einen scharfen Kurs. Einen britischen Zugang zum Binnenmarkt soll es nur gegen selbigen für EU-Fischer in britischen Gewässer geben.

Und auch beim zweiten großen Knackpunkt, dem "level playing field" genannten Streit um gemeinsame Standards etwa im Umweltbereich, standen sich die Verhandler bisher unversöhnlich gegenüber. "Hier finden gerade die härtesten Verhandlungen statt", erfuhr DER STANDARD am Freitag. Möglicher Kompromiss: Die jetzt geltenden Standards sollen für beide Seiten weiterhin gelten – fraglich ist, wie Verstöße künftig sanktioniert werden. Ein gemeinsam bestelltes Schiedsgericht könnte, ähnlich wie zwischen der EU und Kanada, Konflikte lösen. Völlig offen schien zudem auch, ob Großbritannien weiterhin am Studentenprogramm Erasmus teilnehmen wird.

Härteste Verhandlungen bei level playing field

Ein möglicher Abschluss, den man Brüssel-intern nun doch eher für die Tage vor Weihnachten anpeilt, müsste dann am 28. Dezember im EU-Parlament ratifiziert und zwei Tage später im Amtsblatt veröffentlicht werden. Doch am Freitag schien auch denkbar, das am Ende bis zu 700 Seiten dicke Abkommen vorerst nur "vorläufig" in Kraft treten zu lassen, falls es für die Parlamente in Brüssel und London zu knapp wird.

Denn noch ist zwischen Brüssel und London nicht aller Tage Abend. Die US-Investmentbank JPMorgan, gemeinhin mit einer guten Antenne ausgestattet, verortete die Wahrscheinlichkeit für ein Happy End, einen Deal also, unverdrossen mit 70 Prozent. Zuletzt hatten sich die Banker noch pessimistischer gegeben, auf 60 Prozent schätzten sie die Chancen zu Beginn der Woche. Das britische Pfund Sterling reagierte trotz dieser Aussichten negativ auf Barniers Wink mit dem Zaunpfahl – nach seinem Zweijahreshoch zu Beginn der Verhandlungswoche verlor es am Freitag wieder leicht gegenüber dem Euro.

Dem Kursverlust war ein politisches Wetterleuchten vorausgegangen. Nach einem Telefonat des britischen Premierministers Boris Johnson mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hieß es, es gebe weiterhin "große Differenzen".

Noch eine Provokation

Am Freitag setzte Johnson einmal mehr auf Provokation – und stellte der EU, dem größten Binnenmarkt der Welt, die Rute ins Fenster: Wenn Brüssel nichts auf den Tisch lege, werde man eben über die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) mit Europa wirtschaften. Dies, so Johnson, werde zwar hart; schlussendlich werde Großbritannien, aktuell sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt, aber neu erblühen – und, so viel steht jetzt schon fest, auch im Fall eines No-Deals schon kurz nach Neujahr wieder am Verhandlungstisch der EU gegenübersitzen. (Florian Niederndorfer, Thomas Mayer aus Brüssel 18.12.2020)