Nach langem Ringen einigten sich die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel Mitte Dezember auf ein neues Klimaziel. Demzufolge müssen Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 sinken – anstelle der bislang angestrebten 40 Prozent. Die Europäische Kommission möchte Europa bis 2050 sogar zum ersten "klimaneutralen Kontinent" machen. Sowohl beim Klimaziel für 2030 als auch beim langfristigen Ziel der Europäischen Kommission für 2050 handelt es sich allerdings um sogenannte Nettoziele. Das bedeutet, dass die Entnahme von Treibhausgasemissionen aus der Atmosphäre – etwa durch (Wieder-)Aufforstung – als "negative Emissionen" eingerechnet wird.

Was nach einem technischen Detail klingen mag, hat weitreichende klimapolitische Folgen. Zum einen ist das Emissionsminderungsziel für 2030 aufgrund der Anrechnung dieser negativen Emissionen weitaus weniger ehrgeizig, als es auf den ersten Blick scheint. Zum anderen öffnet sich die EU damit klimapolitisch für sogenannte Negative-Emissionen-Technologien, kurz NETs. Das sind technologische Verfahren zur Entnahme von Treibhausgasen aus der Atmosphäre, wie etwa die Kombination von Bioenergie und Abscheidung von CO2 oder Verfahren zur direkten Entnahme und Abscheidung von CO2 aus der Umgebungsluft.

Umstrittener Einsatz

NETs sind in der breiteren Öffentlichkeit bislang weitgehend unbekannt, spielen mittlerweile aber eine zentrale Rolle in den Klimamodellen, die den richtungsweisenden Entscheidungen der internationalen Klimapolitik zugrunde liegen. Obwohl es prinzipiell noch möglich ist, das 1,5-Grad-Ziel ohne den Einsatz von NETs zu erreichen, stützt sich der Weltklimarat in drei der vier berechneten möglichen Klimaschutzpfade auf NETs. Die meisten Modellrechnungen gehen davon aus, dass Treibhausgase im Umfang von zehn bis 23 Jahren der heutigen jährlichen Emissionen durch NETs aus der Atmosphäre entnommen werden müssen.

Doch innerhalb der Klimaforschung ist der Einsatz von NETs hochumstritten. Es wird befürchtet, dass die Aufnahme von NETs in die Klimapolitik die Erwartung nährt, Versäumnisse beim Klimaschutz heute durch technologischen Fortschritt von morgen ausgleichen zu können. Dieser technologische Fortschritt ist jedoch höchst ungewiss. Die Entwicklung von NETs steht noch am Anfang. Zudem ist unklar, ob NETs überhaupt in signifikantem Maßstab eingesetzt werden können. Das betrifft insbesondere den immensen Flächenbedarf für den Anbau von Biomasse. Der in Klimamodellen angenommene Bedarf würde Landflächen in der ein- bis zweifachen Größe Indiens beanspruchen. Zudem besteht das Risiko, dass CO2 aus den Speicherstätten wieder entweicht oder durch indirekte Landnutzungsveränderungen neue Treibhausgasemissionen entstehen. So könnten Erwartungen an den zukünftigen Einsatz von NETs klimapolitische Anstrengungen im Hier und Jetzt schwächen oder verzögern, ohne dass sich dies später noch ausreichend kompensieren lässt.

Können NETs wirklich die Emissionen abfangen?
Foto: EPA/SEM VAN DER WAL

Trügerisches Ende?

Inwieweit ein solcher Verzögerungseffekt in der Klimapolitik der EU tatsächlich zum Tragen kommt, sollte künftig genau beobachtet werden. Auch wenn der Einsatz von NETs bislang öffentlich noch wenig diskutiert wird, zeichnen sich in der langfristigen EU-Klimastrategie bereits erste bevorstehende politische Konfliktlinien über NETs ab. Darin entworfene Szenarien zur Erreichung von Klimaneutralität bis 2050 unterscheiden sich vor allem dahingehend, in welchem Umfang NETs eingesetzt werden sollen. Je nachdem, welches Szenario sich am Ende durchsetzt, wären auch 2050 theoretisch noch kleinere oder größere Mengen sogenannter Restemissionen möglich.

Dabei dürften größere Mengen zulässiger Restemissionen nicht nur im Interesse der Öl- und Gasindustrie, sondern auch vieler anderer emissionsintensiver Industriebranchen liegen, deren vollständige Dekarbonisierung extrem teuer oder gar unmöglich ist. Auch könnten Mitgliedsstaaten, denen die EU-Klimaziele zu weit gehen, höhere Restemissionen beanspruchen. Auseinandersetzungen werden einerseits die Frage betreffen, in welchem Umfang NETs eingesetzt werden und wer die sozialen und ökologischen Folgen trägt, vor allem im Zusammenhang mit den einhergehenden Landnutzungsveränderungen. Andererseits dürfte sich auch die Verteilung der Restemissionen zwischen Sektoren, Branchen und Ländern als konfliktträchtig erweisen.

Über alldem steht die Gefahr, dass das Versprechen, Emissionen ließen sich im großen Maßstab durch technologische Lösungen der Zukunft ausgleichen, den sozial-ökologischen Umbau verzögert – und sich am Ende als trügerisch erweist. (Alina Brad, Etienne Schneider, 5.1.2021)