Fast sieben Wochen nach dem Sieg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden behauptet Donald Trump noch immer, er sei Opfer einer Verschwörung, ihm sei die Wahl gestohlen worden. Obwohl es im ganzen Land nicht den geringsten Beweis für Wahlbetrug gibt, glauben laut einer Fox-News-Umfrage rund 70 Prozent seiner 74 Millionen Wähler, Trump sei durch Betrug um seinen Sieg geprellt worden. Eine andere Untersuchung durch Bright Line Watch Ende November ergab, dass rund die Hälfte der Trump Anhänger glaubten, er und nicht Biden werde im Jänner als Präsident angelobt.

Donald Trump behauptet noch immer, er sei Opfer einer Verschwörung.
Foto: AFP/ANDREW CABALLERO-REYNOLDS

Wie kann man all das erklären? Laut dem französischen Schriftsteller Gustave Flaubert (1821–1880), sei nichts so anstrengend, wie die menschliche Dummheit zu ergründen. Manche Beobachter verweisen auf die Polarisierung zwischen einer Bildungselite und der Schicht der kulturell wie ökonomisch Abgehängten. Zwei Drittel der Personen ohne College-Abschluss wählten Trump.

Die deutsche Publizistin Carolin Emcke meint, Trumps Erfolg lag auch an der ungefilterten zeitgleichen medialen Begleitung und Wiedergabe seiner offensichtlichen Lügen. Erst nachher wurden die von ihm angebotenen Unwahrheiten und der Schwachsinn einzeln redaktionell aufgezählt. Sie spürt hier einen "nihilistischen Relativismus, der alles gleichsetzt und als unterschiedliche ‚Meinungen‘ relativiert".+

Demokratisches "Defizit"

US-Kommentatoren sehen die Gründe dafür, dass Trump trotz seiner verheerenden Präsidentschaft mehr Stimmen bekommen hat als jeder wahlwerbende Präsident vor ihm in den seit langen Jahren blühenden Verschwörungstheorien über die Allmacht einer meinungsbildenden linken Elite. Ein Drittel der US-Amerikaner und 72 Prozent der registrierten Republikaner glaubten, dass Barack Obama nicht in den Vereinigten Staaten geboren worden sei und deshalb kein legitimer Präsident sein könne. Die Autorin Anne Applebaum warnte in der Zeitschrift The Atlantic, dass Trump dieses demokratische "Defizit" nicht geschaffen, aber es ausgenützt und erweitert hatte.

Während die Demokraten darüber streiten, ob ihre Kampagne bei den gleichzeitig stattgefunden habenden und enttäuschenden Kongresswahlen "zu links" oder nicht "richtig links" gewesen seien, bilden die Republikaner eine geschlossene Fraktion. Nur jeder zehnte republikanische Kongressabgeordnete war in der ersten Dezemberwoche bereit, Biden als legitimen Sieger anzuerkennen. Trump gelang es, seit dem Wahltag 250 Millionen Dollar an Spenden für die Partei und für das von ihm kontrollierte Aktionskomitee möglicherweise auch für sein neuerliches Antreten 2024 zu sammeln.

Er hat die Republikanische Partei zu seinem politischen Gefangenen gemacht. Die Kongressabgeordneten und die Senatoren der Partei wissen, was sie der zynischen Taktik des Showmanns im Weißen Haus verdanken. Die für die Funktionsfähigkeit der Biden-Administration entscheidende Stichwahl um die zwei Senatssitze des Staates Georgia am 5. Jänner wird zeigen, wie stark sich der von Trump und von seinen Anhängern Tag und Nacht verbreitete Schwachsinn über die "gestohlene Wahl" noch auswirkt. (Paul Lendvai, 22.12.2020)