Zu den schlimmeren, ich möchte fast sagen: brutalen Erkenntnissen eines Vaters gehört einzusehen, dass er seine Kinder nicht immer und vor allem beschützen kann. Bei mir war es im Oktober so weit. Meine ältere Tochter hatte ihre allererste Mathematikschularbeit. Bei der Probeschularbeit drei Tage zuvor hatte sie einen Batzenfetzen geschrieben, es gab also Grund zur Besorgnis und zwei Tage Mathe-Bootcamp mit Papa.

Am Tag der Schularbeit brachte ich sie in die Schule. Und holte sie am Nachmittag ab. Ich fragte sie, wie es ihr ergangen war. Gut, meinte sie. Ob sie sehr nervös gewesen sei. Ein bisschen schon, aber dann habe sie ganz leise für sich gesungen:

Häschen in der Grube,
hüpf nicht mehr umher,
hüpf nicht mehr umher.
Häschen in der Grube,
ist doch gar nicht schwer.

Ich war baff. Niemand hatte ihr diesen Text beigebracht. Sie hatte ihn da abgewandelt, erzählte sie, in diesem Moment. Der Gedanke an ein kleines, kaum zehn Jahre altes Mädchen, das auf einer noch viel zu großen Schulbank sitzt und ein Liedchen singt, um ihr offenbar wie wild pochendes Herz zu beruhigen, während der Lehrer langsam auf sie zukommt, schnürte mir mein Herz ein. Der Gedanke an meine eigene, absolute Machtlosigkeit dabei brach es. Das klingt für einen Jungspund ohne Kinder vielleicht pathetisch, Eltern aber werden mich verstehen.

Wenn Gott gewollt hätte, dass Eltern ihre Kinder unterrichten, hätte er die Schule nicht erfunden

Liste nur abgearbeitet oder alles auch verstanden?
Foto: APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK

Kurz danach begann der zweite Lockdown, und jeder Tag Homeschooling ließ mich mehr über ihr Liedchen grübeln. Ich fragte mich, ob gerade nicht ein wenig mehr auf sie zukommt als nur ein Mathelehrer. Vor allem aber: ob nicht genau die Tatsache wichtig ist, dass ein Lehrer auf sie zukommt und nicht ein Familienmitglied, das auf emotionaler Ebene ganz anders in die Sache involviert ist.

Und nein, das wird kein Gejammer über die aufreibende Aufgabe, Homeschooling und Homeoffice unter einen Hut zu bringen, dieses Thema wurde schon ausreichend behandelt. Es geht mir darum, was meine Töchter (meine andere geht in die zweite Klasse Volksschule) im Lockdown tatsächlich gelernt haben. Und was es sie, meine Frau und mich schlussendlich gekostet hat.

Mein Eindruck ist der, dass wir Listen abgearbeitet haben. Dass wir dort, wo es hakte, versucht haben zu helfen. Und dass meine Frau und ich bei dieser Hilfeleistung oft selbst ziemlich hilflos waren. Wie weit soll diese Hilfe gehen? Das Dilemma war: Mama und Papa waren sich da nicht ganz einig. Beide wollten nicht die Hausaufgaben anstatt ihrer Kinder machen. Aber irgendwann muss man auch zu einem Ende kommen – die nächste Aufgabe, das Abendessen, der nächste Tag, die eigene Arbeit warteten schon. Wann überschreitet man die Grenze zwischen erklären und vorkauen?

Wandelndes Lösungsheft vs. eiskalter Schinder

Haben die Kinder Aufgabe 56 nur hinter sich gebracht und in den richtigen Ordner hochgeladen oder können sie das Wissen auch anwenden? Das bezweifle ich nämlich stark – in vielen Fächern und bei meinen beiden Töchtern. Nicht weil ich sie für dumm halte – das Gegenteil ist der Fall –, sondern weil wir Eltern nun einmal keine Pädagogen sind. Weil wir nicht vom Fach, weder didaktisch noch pädagogisch geschult sind, noch mit dem nötigen emotionalen Abstand bei der Sache sind.

Weil wir nun einmal nicht weiterwissen, wenn zwar die Viererreihe von der Siebenjährigen tadellos niedergeschrieben werden kann, aber die Frage "Wie viel kosten dann vier Packungen Äpfel, wenn jede Packung zwei Euro kostet?" ein Seminar des Schreckens erfordert, das Tochter und Vater an den Rand des Wahnsinns bringt. Wie ist das erst bei den Dingen, von denen ich wirklich keine Ahnung habe? Und wann genau darf man als Nichtpädagoge dabei die Nerven verlieren? Pädagoginnen und Pädagogen, die es verstehen, Kinder von ihrem Fach zu begeistern, auch wenn dieses "nicht so ihres ist", werden zu Recht gefeiert. Wie zum Henker sollen das Mama und Papa schaffen?

Beziehungsprobe

Fest steht, dass es tödlich ist für eine Beziehung, wenn sich zwei Erziehungsberechtigte auf der Skala zwischen wandelndem Lösungsheft und sturem Noch-mal-zurück-Schicken an unterschiedlichen Meilensteinen orientieren. Denn die Kinder, die sind ja auch nicht blöd, die halten sich sofort an den oder die Nachgiebigere. Da entstehen selbst im intaktesten Familiengefüge schon nach wenigen Lockdowns unüberbrückbare Gräben und verhängnisvolle Allianzen.

So auch bei uns. Einig waren meine Frau und ich eigentlich nur in zwei Dingen: erstens, dass noch so ein Lockdown uns auseinanderbringen wird. Und zweitens, dass wir unsere Kinder dieses Jahr wiederholen lassen werden. In drei Jahren kräht kein Hahn mehr danach, was 2020 war. Alles, was unsere Kinder bis dahin nicht aufgeholt haben, fällt ihnen dann vor die Füße. Und bis dahin haben sie Mathematik, Physik, Englisch oder Deutsch schon längst hassen gelernt. Und geben sich womöglich dem süßen Trost von Drogen hin. In 13 Jahren wiederum kräht kein Hahn mehr danach, ob sie mit 18 oder 19 maturiert haben.

Zu viele Adlerrunden, zu wenig Spatzenpost

Diese Regierung hat ihren jüngsten Bürgerinnen und Bürgern keinen Gefallen getan, im Gegenteil, das war im besten Fall ein verlorenes Jahr für sie. Und ich erlaube mir die Frage: Warum fällt es dieser Regierung so viel leichter, Skilifte offen zu lassen, als die Grundsäulen unseres Bildungssystems? Zu wenige Väter, zu viele Jungspunde?

Mir selbst bleiben bei alledem nicht mehr viele Möglichkeiten. Ach ja, zwei Dinge kann ich tun: diese Regierung nicht wieder wählen. Und mich mit meinem gesamten Grant ins Schlafzimmer zurückziehen und singen: "Häschen in der Grube". (Helge Haberzettl, 5.1.2021)