"Ist es uns wirklich egal, wie es den Leuten dort geht, obwohl wir helfen könnten?", fragt Bundespräsident Alexander Van der Bellen die österreichische Bundesregierung.

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In der Debatte über die mögliche Aufnahme von Flüchtlingskindern aus den griechischen Flüchtlingslagern schaltet sich nun auch Österreichs Staatsoberhaupt ein. Bundespräsident Alexander Van der Bellen sagte am Montag zur "Kleinen Zeitung", dass es in Österreich genug Platz für Familien gebe. Er appelliert an die Bundesregierung, eine humanitäre Geste im Sinne Erster Hilfe umzusetzen, "die kann nur heißen, prioritär Familien mit Kindern dort herauszuholen", sagte Van der Bellen.

Zur Befürchtung der Regierung, das könnte weitere Flüchtlingsströme auslösen, weshalb man lieber "Hilfe vor Ort" leiste, erwiderte der Bundespräsident: "Erstens funktioniert die Hilfe vor Ort nicht, und zweitens: Weihnachten ist die Zeit der Herbergssuche, wie es der Kardinal gesagt hat. Ist es uns wirklich egal, wie es den Leuten dort geht, obwohl wir helfen könnten? Wir haben Platz genug."

Kogler appelliert an türkisen Regierungspartner

Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler plädierte konkret für die Aufnahme von 100 Flüchtlingsfamilien aus Lesbos. Gegenüber krone.tv sagte er, dass es hier längst nicht mehr nur um Migrations- oder Flüchtlingspolitik, sondern um eine humanitäre Notlage handle. "Es geht darum, Erste Hilfe zu leisten, da kann man nicht einfach wegschauen", sagte er: "Weil was auf Lesbos passiert, ist einfach nicht hinnehmbar." Es würde Österreich gut anstehen, diese Familien aufzunehmen: "Da fällt der türkisen Hälfte kein Zacken aus der Krone." Die Grünen hätten hier immer klare Haltung gezeigt und auch etwas dafür getan.

Es sei kein Zufall, dass sich jetzt viele kirchliche Organisationen und politische Entscheidungsträger in der ÖVP zu Wort meldeten. "Also, wir kämpfen darum. Wir haben die Regierungskolleginnen und Regierungskollegen noch nicht überzeugt, das ist ganz offenkundig, aber deshalb geben wir nicht auf", so Kogler.

Zahlreiche Demos und Aktionen

Auf Gemeindeebene hatten sich zuletzt die Stimmen für eine Aufnahme Geflüchteter gemehrt: Neben ersten ÖVP-Bürgermeistern will nun auch die Stadt Innsbruck mindestens 50 Geflüchtete aus Lesbos aufnehmen. In einem Antrag bekräftigen mehrere Fraktion, darunter Grüne, Neos und die ÖVP-nahe Liste Für Innsbruck, dass in Innsbruck Platz für schutzsuchende Menschen habe.

Ebenfalls fanden in den vergangenen Tagen in mehreren Städten im Land Solidaritätsaktionen für die Geflüchteten und Demonstrationen statt. Unter dem Motto "Retten statt Reden" versammelten sich am Dienstagvormittag Künstler, Sportler, Vertreter aus der Zivilgesellschaft sowie Politiker der Neos und SPÖ vor dem Bundeskanzleramt in Wien. Fußball-Nationalspieler Marc Janko, Liedermacher Ernst Molden, Autorin Julya Rabinowich und der Percussionist Martin Grubinger waren unter den Prominenten, um die Aufnahme von Geflüchteten zu fordern. Zum Abschluss signierten die Beteiligten ein Zelt mit ihren Forderungen. Der Erlös soll an Hilfsorganisationen in Griechenland gehen.

Geistliche appellieren an ÖVP

Mittlerweile mehren sich die Stimmen aus katholischer sowie evangelischer Kirche, die an das christlich-soziale Gewissen der Volkspartei appellieren. "Bitte ändern Sie und alle Regierungsmitglieder mit Ihnen Ihre Haltung", schrieb der Wiener Superintendent der Evangelischen Kirche A.B., Matthias Geis, in einem Brief an Kurz. "Bedenken Sie bitte kein politisches Kalkül, Allianzen in Österreich oder in der EU, sondern bedenken Sie, ob es nicht jedes kleine Kind wert ist, dass wir ihm helfen – mit allen unseren Mitteln", heißt es in einem Schreiben, das der APA vorliegt.

Die Tiroler Landesrätin Beate Palfrader ist bislang die prominenteste ÖVP-Vertreterin, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten ausspricht.
Peter Berger

Nach Kardinal Christoph Schönborn und Innsbrucks Bischof Hermann Glettler sprach sich auch der Salzburger Erzbischof Franz Lackner am Montag für die Aufnahme von Geflüchteten aus. Österreich habe zwar schon viel getan, meinte Lackner: "Jetzt scheint mir aber der Moment gekommen zu sein, wo vor allem Familien mit Kindern von dort aufgenommen werden." Er warnte vor einer "Katastrophe" auf den griechischen Inseln.

Auch die Österreichische Ordenskonferenz appellierte an die Bundesregierung, im Sinne der Humanität ihrer Verantwortung gerecht zu werden, und forderte die Aufnahme von Flüchtlingen von Lesbos. Die Situation der vor Bürgerkrieg und Hungersnot geflüchteten Menschen sei prekär und menschenunwürdig, hieß es in einer Aussendung.

Nicht nur Kara Tepe

Die humanitäre Situation ist allerdings nicht nur auf der Insel Lesbos katastrophal. Auf diesen Umstand deutet eine Diskussion um Kinder hin, die von Ratten gebissen wurden. Mehrere Medien berichteten, dass es sich dabei um Kinder im Lager Kara Tepe auf der Insel Lesbos handelt. Allerdings dementierte dies der griechische Migrationsminister Notis Mitarachi am Montag in Athen. Die Vorfälle seien "erfunden".

Jedoch dürfte es sich bei den Vorwürfen um eine Verwechslung handeln. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen gab nämlich vergangene Woche bekannt, dass sie auf der Insel Samos eine Tetanus-Impfkampagne durchgeführt haben, da viele Kinder von Ratten gebissen wurden. Rattenbisse seien nicht der häufigste Behandlungsgrund, aber sehr ernst zu nehmen. Ärzte ohne Grenzen hat kein Mandat für Hilfsaktionen im Lager Kara Tepe, das von der griechischen Regierung kontrolliert wird.

Auch die Direktorin des evangelischen Hilfswerks Diakonie, Maria Katharina Moser, machte auf die Lage auf anderen Inseln aufmerksam. "Insbesondere auch auf Samos und Chios leben Schutzsuchende unter völlig unzumutbaren Bedingungen", so Moser in einer Aussendung. Inzwischen befänden sich in den Flüchtlingslagern auch viele Menschen, die bereits einen offiziellen Schutzstatus erhalten haben. Sie haben keinen Zugang mehr zu staatlicher Unterstützung, können aber auch die Inseln nicht verlassen, erläuterte Moser.

In den vergangenen Tagen gelangen die Kinder auf den griechischen Inseln vermehrt in den Sog der innenpolitischen Debatte. Die ÖVP kündigte an, ein Tagesbetreuungszentrum für die Kinder im Lager Kara tepe errichten zu wollen – weil noch keine Genehmigung der griechischen Behörden vorliegt, werteten Kritiker diese Aktion als "PR-Gag" vor Weihnachten. Auch im Nationalrat forderte die Opposition erneut, Flüchtlingskinder aufzunehmen. Dementsprechende Anträge wurden aber von ÖVP, FPÖ und Grünen abgeschmettert.

Doskozil: "Scheinheilig"

Der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil (SPÖ) bezeichnete die Debatte als "scheinheilig". Vor Weihnachten zu sagen, "wir holen jetzt Kinder mit Familien aus Griechenland", sei "zu kurz gegriffen", wurde Doskozil in der "Presse" (Mittwoch-Ausgabe) zitiert: "Das ist für mich Symbolpolitik. Um sich und sein soziales Gewissen zu beruhigen." (lalo, APA, 22.12.2020)