Angelika Kausche gehört dem Abgeordnetenhaus des US-Bundesstaats Georgia an, wo der scheidende Präsident Donald Trump nach wie vor um eine Änderung des Wahlergebnisses kämpft und zudem am Dienstag entscheidende Nachwahlen für den US-Senat stattfinden. Seit 1997 lebt Kausche in den USA, geboren wurde die heute 58-Jährige in Deutschland, in Wuppertal, aufgewachsen ist sie in Krefeld, Marburg und Bocholt. Dass sie sich in ihrer neuen Heimatstadt Johns Creek nahe Atlanta für die Demokraten um einen Sitz im Abgeordnetenhaus bewarb, hatte mit Trump zu tun. Aber nicht nur.

STANDARD: Joe Biden hat die Wahl auch in Georgia gewonnen, was viele überraschte. Man spricht ja schon länger vom neuen Süden. Ist der alte Süden nun tatsächlich passé?

Kausche: Es ist mehr eine Trennung zwischen Stadt und Land. Ich brauche nur ein paar Meilen aus meiner Wohngegend herauszufahren, dann bin ich in einer ländlichen Gegend, die ist sehr, sehr konservativ. Dann sieht man die Flagge der Konföderierten wehen, im Wahlkampf sah man nur Poster für Donald Trump und Mike Pence. Den alten Süden gibt es also noch, aber er verliert an Einfluss, einfach deshalb, weil die Städte wachsen.

Angelika Kausche im Parlament Georgias.
Foto: privat

STANDARD: Sie leben in Johns Creek, einer Stadt im Speckgürtel um Atlanta. Was ist dort anders als früher?

Kausche: Mein Wahlkreis, der einen Großteil von Johns Creek umfasst, war einmal weiß und republikanisch. Heute ist es ein Fifty-fifty-Wahlkreis. Ungefähr die Hälfte der Bewohner sind weiße, alteingesessene Amerikaner, die andere Hälfte hat einen Migrationshintergrund, wie man im Deutschen so schön sagt. Die meisten Einwanderer stammen aus Asien, aus Indien, China, Südkorea. Viele arbeiten im IT-Bereich oder in der Medizin, sind gebildet und verdienen gut. Politisch stehen sie in ihrer Mehrheit entweder in der Mitte oder neigen den Demokraten zu. 2016 haben sie noch nicht so aktiv ins Wahlgeschehen eingegriffen. 2020 waren sie sehr aktiv, und so wird es bleiben.

STANDARD: Bei Leuten mit hohem Einkommen hätte man vermuten können, dass sie den wählen, der auch in Zukunft niedrige Steuern verspricht. Also Trump.

Kausche: Wir reden hier nicht von einer homogenen Gruppe. Für die Konservativen, darunter Kleinunternehmer, ist der Steuerfaktor wichtig, außerdem, dass sich der Staat nicht so viel in ihre Belange einmischt. Die haben dann auch Trump gewählt. Die andere Gruppe sagt: Ja, niedrige Steuern sind gut, aber wir sind an einem Punkt, wo der Staat der Bevölkerung nicht mehr die Dienstleistungen anbieten kann, die er anbieten sollte, damit es uns als Gemeinschaft besser geht. Dazu gehört die Gesundheitsversorgung, das Thema Krankenversicherung. Es gibt Leute, die sagen, ich bin gern bereit, mehr Steuern zu zahlen, wenn wir dafür gute Schulen bekommen und eine Krankenversicherung, von der wir alle profitieren. In der Kultur dieser Migranten denkt mancher nicht so individualistisch, wie man sich das bei typischen Amerikanern vorstellt. 2020 musste Georgia das Schulbudget um eine Milliarde Dollar kürzen, weil mit der Corona-Krise die Einnahmen wegbrachen. Dass das Niveau an den guten, vom Staat finanzierten Schulen sinken könnte, hat den Leuten in meiner Gegend Sorgen bereitet.

STANDARD: Am Dienstag finden in Georgia Stichwahlen um zwei Sitze im US-Senat statt. Wie lautet Ihr Tipp?

Kausche: Gewinnen die Demokraten beide Sitze, haben wir im Senat ein Patt, womit die entscheidende Stimme bei der künftigen Vizepräsidentin Kamala Harris liegt. Deshalb wird wahnsinnig viel Geld in diesen Wahlkampf gepumpt. Ich rechne mit einer ungewöhnlich hohen Beteiligung, obwohl es ja eigentlich ein seltsames Datum ist. Am 5. Jänner kommen die Leute gerade aus dem Weihnachtsurlaub, und dann sollen sie schon wieder wählen. Aber es gibt sehr viele Anträge auf Briefwahl, und viele junge Leute haben sich registrieren lassen. Ich gehe davon aus, dass es knapp wird.

STANDARD: Ist es denn realistisch, dass die Demokraten beide Mandate gewinnen? Oder ist es einer Mehrheit der Wähler nicht doch lieber, wenn der Senat in republikanischer Hand bleibt, damit eine Partei nicht die ganze Macht in Washington hat?

Kausche: Es wird davon abhängen, wer es schafft, seine Wähler zu motivieren. Etliche Anhänger Trumps sind wegen der Niederlage ihres Mannes so sauer, dass sie nicht mehr zur Wahl gehen wollen. Wie viele das sind, weiß man nicht. Doch es könnte den Republikanern schaden. Wenn ich eine Prognose abgeben müsste, würde ich sagen, dass Raphael Warnock bessere Chancen hat als Jon Ossoff. Kelly Loeffler, Warnocks Gegnerin, ist unter den Republikanern nicht besonders beliebt. Der Gouverneur Brian Kemp hat sie nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden des Senators Johnny Isakson ernannt, weil sie die Frauen in den Vororten zurückgewinnen sollte. Aus irgendeinem Grund hat sie sich stattdessen noch rechts von Trump positioniert. In einem abstrusen Werbespot hat sie gesagt, sie sei konservativer als Attila der Hunnenkönig. Das ist diese extreme Polemik, die sich an die Trump-Anhänger im ländlichen Raum richtet. David Perdue, Ossoffs Kontrahent, hat allerdings einen hohen Bekanntheitsgrad. Er dürfte es leichter haben als Loeffler.

STANDARD: Stichwort Polemik: Was Trump über vermeintlichen Wahlbetrug erzählt, hat sich auch in Georgia längst als unwahr herausgestellt. Wieso versteift er sich so auf seine Behauptungen? Warum macht er immer weiter, obwohl er vor Gericht eine Schlappe nach der anderen kassierte?

Kausche: Das Wichtigste für ihn ist, dass er relevant bleibt. Er lebt davon, ständig im Mittelpunkt zu stehen. Er wird weiter versuchen, die Debatte zu dominieren. Und im Augenblick, muss ich sagen, gelingt ihm das auch. Alle reden über seine Vorwürfe, wo wir doch eigentlich darüber reden sollten, was im Team Biden passiert, das sich auf die Machtübernahme vorbereitet. Ich bin gespannt, wie es nach dem 20. Jänner aussieht, wenn Trump nicht mehr Präsident ist. Was machen dann Sender wie Fox News, CNN oder MSNBC, die durch einen sehr kontroversen Präsidenten Trump sehr hohe Einschaltquoten hatten? Reden sie weiter über ihn, weil dann ihre Quoten steigen? Oder berichten sie eher über Biden und dessen gemäßigteren Ton, worunter womöglich die Einschaltquoten leiden?

Angelika Kausche im Wahlkampf
Foto: privat

STANDARD: Was, glauben Sie, werden sie tun?

Kausche: Ich nehme an, Fox News wird so lange an Trump festhalten, wie es nur geht. CNN und MSNBC, die von den Demokraten bevorzugten Sender, haben wiederum vom Anti-Trump-Faktor profitiert. Ich hoffe, dass wir endlich mehr über Sachverhalte hören und weniger über Trump. Aber sicher bin ich mir nicht. Wenn Trump Zuschauer bringt, werden die Medien auch weiter über Trump berichten. Und der weiß einfach, wie man diese Karten spielt. Er wird wohl auch nach Bidens Vereidigung versuchen, als eine Art Gegenpol im Rampenlicht zu stehen. Vielleicht fliegt er aber auch am 21. Jänner nach Florida und verkündet, dass er für den Rest seines Lebens Golf spielen will.

STANDARD: Biden hat die Stimmen von rund 81 Millionen Wählern erhalten, das war Allzeitrekord. Trump bekam etwa 74 Millionen, historisch gesehen die zweithöchste Zahl. Warum hat er trotz seiner schwachen Leistung im Umgang mit der Pandemie noch ein solches Ergebnis erreicht?

Kausche: Wir hatten einfach eine sensationell hohe Wahlbeteiligung, dadurch konnte auch Trump so viele Stimmen gewinnen. Und ich sage immer: Leute, wenn ihr US-Politik verstehen wollt, begebt euch in den Süden und den Mittleren Westen. Dort begreift ihr, wie Amerikaner denken. Ich habe in beiden Regionen gelebt und kann die Denkweise recht gut nachvollziehen. Die meisten der 74 Millionen, die Trump gewählt haben, sind nicht radikalisiert. Das sind Leute, die sagen: Okay, ich bin eher konservativ, ich bin der Überzeugung, dass die Republikaner eine bessere Wirtschaftspolitik machen. Und ich will nicht, dass der linke Flügel der Demokraten zu viel Einfluss bekommt. Viele sagten: Ich finde zwar nicht gut, was Trump so twittert, aber letztendlich bleibe ich bei ihm. Das waren rationale Entscheidungen, es ging um die Küchentischthemen, wie wir sie nennen. Um Fragen wie: Habe ich einen Job, kann ich meine Existenz halten, wie ist es mit den Steuern? Außerdem geht es hier immer auch um Individualismus und Freiheit, und da haben die Republikaner eine simple Botschaft, mit der sich viele leichter identifizieren können. Wir Demokraten versuchen den Leuten viel zu viel zu erklären, warum gut ist, was wir wollen. Egal, letztlich hat Biden ja klar gewonnen.

STANDARD: Bei Anhängern Trumps, aber nicht nur bei denen, hat man im Wahlkampf gespürt, dass es längst nicht nur um inhaltliche Differenzen mit dem politischen Gegner ging. Vielmehr wurde der Gegner verteufelt, man selbst verkörperte das Gute im Kampf gegen das Böse, es war Hass im Spiel. Sie dagegen beschreiben es deutlich rationaler ...

Kausche: Ich glaube, eine Mehrheit der Amerikaner trifft sich noch immer irgendwo in der breiten Mitte, entweder Mitte-rechts oder Mitte-links. Im Augenblick hat der rechte Flügel der extremen Trump-Anhänger nicht nur Einfluss, sondern ist auch sehr laut. Für die Demokraten wiederum stellt deren linker Flügel eine Herausforderung dar, und man muss sehen, wie sich das in den nächsten Jahren entwickelt. Natürlich gibt es diesen Hass auf den Gegner – auf beiden Seiten. Auch ich kenne Leute, die sagen: Mit diesem oder jenem rede ich nicht mehr, der ist ein Trump-Anhänger – und umgekehrt. Auf der lokalen Ebene, wenn konkrete Themen zur Debatte stehen, können wir das überbrücken. Auf der nationalen, wo sich vieles abstrakter darstellt, ist das schwieriger. Auch ich bin in meinem Wahlkampf heftig attackiert worden. Dass ich als Sozialistin bezeichnet wurde war ja noch nett. Es wurde auch behauptet, ich sympathisierte mit Terroristen. Ich habe aus verschiedenen Gründen gegen den Haushalt Georgias gestimmt. Daraufhin hat man mir unterstellt, ich wolle Straftäter nicht angemessen bestrafen, der Polizei die Mittel entziehen und so weiter. Einem europäischen Publikum amerikanische Politik zu erklären, das ist manchmal nicht ganz leicht.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Kausche: Um es mit einer Metapher aus der Welt des Sports zu sagen: Läuft es gut, wird es ein schönes Fußballspiel, geht es etwas rauer zu, sehen wir ein American-Football-Match. Heute haben wir jedoch zu entscheiden, ob es Boxen oder Wrestling sein soll, und zwar Wrestling ohne Regeln. Wir müssen wieder zurück dahin, dass vielleicht doch eher Fußball gespielt wird. Im Moment ist das Land emotional aufgewühlt, man muss sehen, ob sich das legt. Es kann in beide Richtungen gehen. Wenn nach der Corona-Krise die Wirtschaft wieder in Gang kommt, die Kinder wieder zur Schule gehen, man wieder in den Urlaub fahren kann, wird es vielleicht normaler. In diesem verrückten Jahr wurde ja sogar ein Politikum aus der Frage gemacht, ob man sich eine Maske vors Gesicht bindet oder nicht. Im Parlament Georgias finden Sie kaum einen Republikaner, der eine trägt, während die Demokraten alle eine tragen. Rudy Giuliani war Anfang Dezember bei uns in Atlanta. Drei Tage später wird er positiv auf das Virus getestet, und in einem Ausschuss unseres Senats saß er ohne Mund-Nasen-Schutz in einem kleinen Raum. Damit hat er alle Anwesenden einem Risiko ausgesetzt, und was sagt er dazu? Er lasse sich seine Freiheit nicht durch irgendeine blöde Maske einschränken. Das hat mit Wissenschaft nichts mehr zu tun, das ist nur noch ein politisches Statement. Jedenfalls glaube ich, wenn wir herauskommen aus der Krise, werden sich auch die Emotionen ein bisschen abschwächen.

Das offizielle Foto der Abgeordneten Kausche
Foto: Ross Landenberger, Atlanta

STANDARD: Sie sind 1997 in die USA gekommen. Wie hat sich das Land seither in Ihrer Wahrnehmung verändert?

Kausche: Für meinen Mann und mich war Amerika immer das Land der Hoffnung, umso mehr 2008, als Barack Obama die Wahl gewann. Der erste schwarze Präsident, das fanden wir fantastisch. Oder 2015, als die Homo-Ehe juristisch gleichgestellt wurde: Ich hatte immer das Gefühl, es geht voran, hin zu einer offeneren Gesellschaft. Unter Trump ging es dann wieder zurück. Das ist wie bei der Echternacher Springprozession: zwei Schritte vor, einen zurück. Jetzt hoffen wir, dass wir wieder zwei Schritte nach vorn machen. Nur weil wir eine Phase hatten, die nicht so von Optimismus geprägt war, sollte man nicht übertreiben. Was mich an den USA immer begeistert hat, ist diese Grundeinstellung. Man rappelt sich auf, es geht immer voran. Das ist doch der Grund, warum viele noch immer herkommen. Du kannst tun, was immer du willst, wenn du dir nur Mühe gibst. Das schätzen gerade auch die Migranten in meinem Wahlkreis an Amerika. Und das kriegt man nicht kaputt, auch wenn es jetzt mal einen Dämpfer gab. (Frank Herrmann aus Washington, 4.1.2021)