Als der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern Mitte Oktober nach 389 langen Tagen wieder in Bremerhaven einlief, stand Markus Rex die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Ein verrücktes Jahr lag hinter dem Physiker und Polarforscher vom Alfred-Wegener-Institut (AWI), der gerade die größte Arktisexpedition aller Zeiten geleitet hatte: eine wissenschaftliche Reise ins unwirtliche Herz des Klimawandels, inmitten einer weltweiten Pandemie.

Der Eisbrecher Polarstern bei der Rückkehr nach Bremerhaven am 12. Oktober 2020.
Foto: AFP/PATRIK STOLLARZ

Alle Missionsteilnehmer waren wohlauf, die Erfrierungen abgeheilt, die Eindrücke bleibend: "Das Jahr hat uns verändert, und es wird die Wissenschaft verändern, die sich mit dem Klimawandel der Arktis beschäftigt", hielt der Forscher in seinem kürzlich veröffentlichten Logbuch fest. Rex und sein Team haben einen unbezahlbaren Schatz aus dem Norden mitgebracht: Unmengen an Daten über eine Region, die sich mindestens doppelt so schnell erwärmt wie jeder andere Ort unseres Planeten – mit weitreichenden Folgen für uns alle.

Polares Megaprojekt

Fast 500 Personen waren an der internationalen Mosaic-Expedition beteiligt, darunter Wissenschafter aus 80 Institutionen, Seeleute, Köche, Techniker, Piloten, Eisbärenwächter, eine Fotografin und ein Oberkommissar der norddeutschen Polizei. Der Missionsname Mosaic steht für "Multidisciplinary Drifting Observatory for the Study of Arctic Climate". Die Teilnehmer ließen sich mit ihrem Schiff an einer riesigen Eisscholle in der Arktis festfrieren und drifteten fast ein Jahr lang durch das Nordpolarmeer, um klimarelevante Daten zu sammeln. "Das Hauptziel der Expedition war es, die gekoppelten und sehr komplexen Prozesse im Klimasystem der Arktis besser zu verstehen, und zwar so, dass wir sie in Klimamodellen realistisch abbilden können. Nur so können wir gute Klimaprognosen für die Arktis bekommen", sagt Rex dem STANDARD.

Festgefroren in der Arktis: Der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern bildete das Herzstück der Mosaic-Expedition.
Foto: Esther Horvath/AWI

Bessere Daten zu den rasanten Veränderungen in der nördlichen Polarregion sind für die Klimaforschung entscheidend: So weit weg uns die Arktis auch erscheinen mag, sie ist durch globale Zirkulationssysteme direkt mit uns verbunden. "Insbesondere für das Klima der Nordhemisphäre, in den Breiten, wo wir und ein Großteil der Menschheit leben, ist die Arktis eine Klima- und Wetterküche", sagt Rex. Denn der Temperaturkontrast zwischen der kalten Arktis und den mittleren Breiten treibt das Hauptwindsystem der Nordhemisphäre an, den sogenannten Westwind-Jet. Wenn sich die Arktis stärker erwärmt als der Rest der Welt, und das ist längst der Fall, wird das Windsystem instabiler. "Und das hat enorme und direkte Konsequenzen für Wetter und Klima hier in Europa, in Nordamerika und Asien."

Blinde Flecken im Datengeflecht

Die Bedeutung der Arktis für den Klimawandel ist groß, doch gleichzeitig ist die Region wissenschaftlich gesehen in vieler Hinsicht noch ein blinder Fleck. Der Temperaturanstieg und der rasante Rückgang der Eismassen in den vergangenen Jahrzehnten sind gut dokumentiert. Klar ist auch: Je mehr Eis verschwindet, desto schneller schreitet die Erderwärmung voran. Die helle Oberfläche von Schnee und Eis reflektiert Teile des Sonnenlichts zurück ins All und reduziert damit die Erwärmung. Schrumpft die Eisfläche, wird mehr Strahlung absorbiert. Dazu kommen weitere Auftaueffekte wie die Zunahme von Wasserdampf in der Atmosphäre, was wiederum den Treibhauseffekt verstärkt.

Doch es fehlt an detaillierten Daten zu den eng aneinandergekoppelten Prozessen, die dabei ablaufen. Was genau an den Grenzflächen zwischen Ozean, Eis, Schnee und Atmosphäre passiert, ist weitaus weniger gut untersucht – vor allem im Winter, wenn das arktische Meereis zu dick ist, um von Eisbrechern durchfahren zu werden. Diese Prozesse werden durch den Klimawandel verändert und verstärken ihn, sind aber gleichzeitig eine der größten Unsicherheiten in den Klimamodellen. Diese Lücke so weit wie möglich zu schließen ist das Ziel von Rex und seinen Kollegen.

Forschung in der eisigen Finsternis: Wissenschafter entnehmen in der Polarnacht einen Eisbohrkern.
Foto: Esther Horvath/AWI

Auf Nansens Spuren

Im September 2019 brach die Polarstern von Norwegen aus in Richtung Zentralarktis auf. Ihr historisches Vorbild war die Expedition des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen, die vor mehr als 125 Jahren die erste Eisdrift durch den Arktischen Ozean unternahm. Nansen hatte erkannt, dass das Meereis der zentralen Arktis durch Strömungen bis ins europäische Nordmeer gelangt – und beschloss, sich mit seinem Schiff im Eis einfrieren zu lassen und so über den Nordpol bis in den Nordatlantik mitzudriften.

Das haben nun auch Rex und sein Team in der bisher aufwendigsten und größten Forschungsreise dieser Art gemacht. "Vor der sibirischen Küste sind wir ins Eis vorgestoßen und haben eine Eisscholle gesucht, auf der wir unser Forschungscamp aufbauen konnten", erzählt Rex. Die erste ernüchternde Beobachtung: Der Sommer 2019 war so warm gewesen, dass es kaum ausreichend dicke Schollen in der Region gab.

Der Polarforscher Markus Rex leitete die Expedition.
Foto: Esther Horvath/AWI

Eine Scholle wird zum Städtchen

Als im Oktober dann eine passende Scholle gefunden war, ging es an die Aufbauarbeiten. Fast 100 Tonnen an Ausrüstung wurden auf das Eis gebracht, ein wissenschaftliches Forschungslager wurde errichtet. In größerer Entfernung rund um das Hauptcamp wurden etliche kleine Forschungsstationen aufgebaut, die regelmäßig per Helikopter besucht wurden, um die Messinstrumente am Laufen zu halten. Als Homebase der "Stadt im Eis" diente während der gesamten Zeit die Polarstern, die an der Scholle festgefroren war.

"Das gesamte Netzwerk mit Polarstern, dem Forschungsstädtchen in der Mitte und den Außenstationen ist im Verlauf des Jahres über die Polarkalotte am Nordpol vorbeigedriftet, von der sibirischen Seite der Arktis bis in den atlantischen Sektor. Bei Grönland und Spitzbergen haben wir dann die Eiskante erreicht", sagt Rex. Während die Scholle von der sibirischen Arktis über den Nordpol bis in die Framstraße zwischen Spitzbergen und Grönland trieb, nahmen die Wissenschafter tausende Eis- und Schneeproben und führten Messungen zu über hundert komplexen Klimaparametern durch, die das arktische Klima und die Meereisevolution prägen.

Fast 100 Tonnen an Ausrüstung wurden auf die Eisscholle gebracht.

Die Meereisphysikerin Stefanie Arndt vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven war zweieinhalb Monate auf der Eisscholle dabei und leitete dort das internationale Meereisteam. "Das Ganze war ein sehr großes und interdisziplinäres Projekt, es arbeiteten Atmosphärenforscher, Ozeanologen, Meereisforscher und Biologen eng zusammen", erzählt Arndt. Sie interessierte sich vor allem für die Wechselwirkungen zwischen Ozean, Meereis, Schnee und Atmosphäre. "Bei der Energiebilanz spielen diese Grenzflächenprozesse eine enorme Rolle. Da geht es etwa darum, wie viel Licht wird von der Oberfläche reflektiert, wann setzt wo das Schmelzen ein, und was hat das für einen Einfluss?"

Corona bringt die Expedition ins Wanken

Im Februar stellte die driftende Expedition einen Rekord auf, sie näherte sich dem Nordpol bis auf 156 Kilometer. Nie zuvor war ein Schiff im Winter so weit in den Norden vorgestoßen. Doch bald traten gänzlich unvorhergesehene Probleme auf: Die Folgen der Corona-Pandemie erreichten auch die Polarstern im arktischen Eis. Die Pläne zu den Versorgungslieferungen der Expedition und zum Austausch der Teilnehmer waren von einem Tag auf den anderen unbrauchbar. Flugzeuge konnten auf Spitzbergen nicht mehr zwischenlanden, Partner-Eisbrecher wurden in ihre Heimathäfen zurückbeordert, die Mission stand vor dem Aus.

Im Mai kam schließlich die Rettung: Zwei deutsche Forschungsschiffe übernahmen die nötigen Transporte kurzfristig, die Polarstern musste ihre Scholle aber vorübergehend verlassen, um ihnen entgegenzufahren. Doch die Forschung konnte weitergehen, bis die Scholle Ende Juli nach 300 Tagen Drift zerbrach.

Zwei Eisbären nähern sich dem Forschungslager. Gefährlicher wurde der Expedition aber die Corona-Pandemie.
Foto: Esther Horvath/AWI

Verstörende Beobachtung

Die Auswertung aller Daten der Expedition wird Jahre in Anspruch nehmen, auch die Universität Wien ist Projektpartner. Einige Ergebnisse liegen aber schon jetzt vor. So wurden während des Winters fast durchgängig zehn Grad höhere Temperaturen gemessen als bei Nansens Expedition Ende des 19. Jahrhunderts. Und die sommerliche Ausdehnung des Meereises war nur noch halb so groß wie vor vier Jahrzehnten. Als die Polarstern im August noch einmal nordwärts steuerte, um die Gefrierphase des Eises im Spätsommer zu untersuchen, bot sich der Crew ein verstörendes Bild: Wo es früher dickes Eis zu brechen galt, erstreckten sich in diesem Sommer offene Wasserflächen – fast bis zum Pol.

Einen traurigen Rekord stellte die Polarstern im Sommer auf: Mangels Eisbedeckung ging die Fahrt zum Nordpol viel schneller voran als gedacht.
Foto: Steffen Graupner/AWI

"Man braucht hier keine Messgeräte oder ausgefeilte Statistik, um den Klimawandel nachzuweisen, man muss nur die Augen aufmachen", schreibt Rex im Vorwort des Bildbands Expedition Arktis der Fotografin Esther Horvath. "Aber um den Wandel zu verstehen, brauchen wir präzise Beobachtungen der sehr komplexen Klimaprozesse in der Arktis." Welche Schlüsse wir aus den eindrucksvollen Ergebnissen der Mosaic-Expedition ziehen werden, ist keine wissenschaftliche Frage. (David Rennert, 28.12.2020)