Wenn der Klimawandel auch nur annähernd so fortschreitet wie bisher, wird die sommerliche Arktis in wenigen Jahrzehnten eisfrei sein, sagt der deutsche Atmosphärenphysiker Markus Rex.

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Im Winter driftete die Polarstern festgefroren durch die Arktis, im Sommer ging die Fahrt wegen Eismangels erschreckend schnell voran.

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STANDARD: Sie haben die einjährige Mosaic-Expedition geleitet. Waren Sie selbst das ganze Jahr in der Arktis dabei?

Rex: Ich bin einen Großteil der Zeit selber an Bord gewesen. Zwischendrin musste ich mich aber von Land aus um die Reorganisation des Ablaufs unserer Mission kümmern, als es mit der Corona-Pandemie losging.

STANDARD: Wie hat die Pandemie die Forschungsreise beeinflusst?

Rex: Das war eine sehr schwierige Zeit. Corona ist über uns hinweggezogen wie ein alles zerstörendes Unwetter, nichts hat mehr funktioniert. Wir mussten ja unseren Eisbrecher in der zentralen Arktis in regelmäßigen Abständen versorgen, Treibstoff und Versorgungsgüter mussten vorbeigebracht und Teammitglieder ausgetauscht werden. Alle Pläne dafür sind auseinandergefallen. Alles, was wir über Jahre mit unseren Partnern ausgearbeitet hatten, musste innerhalb weniger Wochen neu gedacht werden.

STANDARD: Gab es die Überlegung, die Expedition abzubrechen?

Rex: Ja, es stand zwischendurch wirklich auf Messers Schneide, ob wir weitermachen können oder abbrechen müssen. Die Eisbrecher, die zur Expedition hätten vorstoßen sollen, konnten unter den Bedingungen der Pandemie nicht mehr eingesetzt werden. Auch der Austausch von Expeditionsmitgliedern per Flugzeug, der für April geplant war, konnte nicht mehr stattfinden. Aber es ist uns letztlich gelungen, weiterzumachen: Die deutschen Forschungsschiffe FS Sonne und Maria S. Merian, die wir ganz kurzfristig aktivieren konnten, und später auch ein russischer Eisbrecher konnten Versorgungsaufgaben übernehmen.

Standard: Ziel der Expedition war es, erstmals den ganzen Winter hindurch Messungen in der Arktis vorzunehmen. Warum ist das aus klimatologischer Sicht wichtig?

Rex: Die Arktis ist das Epizentrum des Klimawandels. Sie erwärmt sich sehr viel schneller als der Rest der Welt. Gleichzeitig ist die Arktis der Bereich, in dem die Prognosen der Klimamodelle die größten Unsicherheiten haben: Wenn wir im Moment für ein pessimistisches Treibhausgasszenario die Modelle fragen, wie stark die Erwärmung in der Arktis bis zum Ende des Jahrhunderts sein wird, sagen einige Modelle fünf Grad Celsius, andere 15 Grad. Das Hauptziel der Expedition war es, die gekoppelten und sehr komplexen Prozesse im Klimasystem der Arktis besser zu verstehen, damit wir sie in den Klimamodellen robust und realistisch abbilden können.

STANDARD: Welche Prozesse wurden dafür untersucht?

Rex: Wir haben über hundert komplexe Parameter das ganze Jahr über gemessen, die die Funktionsweise des Klimas beschreiben. Die Temperatur wird ja ganz direkt bestimmt durch die Energiebilanz der Oberfläche, dazu tragen viele Prozesse bei: zum Beispiel die Einstrahlung der Sonnenenergie und die Wärmestrahlung, die von den Wolken und kleinen Staubpartikeln in der Atmosphäre ausgeht. Dann strahlt die Oberfläche selbst auch wieder Wärmestrahlung aus, und durch kleine Verwirbelungen in der Luft wird Wärme von der Oberfläche in die Atmosphäre abgeführt. Durch die Wärmeleitung von Schnee und Eis kommt auch die Wärme des Ozeans bis an die Oberfläche. All diese Energieflüsse haben wir genau vermessen.

STANDARD: Die Auswertung dieser riesigen Datensammlung wird dauern. Welche Erkenntnisse lassen sich jetzt schon aus der Mosaic-Expedition gewinnen?

Rex: Wir bringen natürlich auch ganz direkte Eindrücke mit, und die zeigen dramatische Veränderungen in der Arktis. Im Winter waren die Temperaturen etwa zehn Grad höher als das, was Fridtjof Nansen in seiner Expedition von 1893 bis 1897 gemessen hat, und das Eis ist nur noch halb so dick gewesen wie vor 40 Jahren. Im Sommer haben wir dann gesehen, wie alles schmilzt. Wir sind in Gegenden, wo eigentlich dickes, mehrjähriges Eis liegen sollte, durch große Bereiche offenen Wassers gefahren – fast bis zum Pol. Und auch am Pol selber war das Eis völlig erodiert und aufgeschmolzen.

STANDARD: Wird die Arktis im Sommer bald eisfrei sein?

Rex: Wenn der Klimawandel auch nur annähernd so fortschreitet wie bisher, wird das in wenigen Jahrzehnten der Fall sein. Unsere Beobachtungen zeigen, dass wir schon sehr, sehr nahe an einem Kipppunkt dran sind – und es ist leider auch nicht auszuschließen, dass wir ihn bereits erreicht haben. Ich persönlich denke, wir haben noch ein kurzes Zeitfenster von vielleicht einem Jahrzehnt, um das Steuer herumzureißen.

STANDARD: Abseits der Klimaforschung: Was bleibt für Sie persönlich von der Expedition zurück?

Rex: Ich bin mit unzähligen intensiven Eindrücken zurückgekommen, die mich bis zum Ende meines Lebens begleiten werden. Um einen herauszugreifen: Im Winter auf dem Eis unterwegs zu sein, weit weg vom Schiff mit seinen Geräuschen und dem Licht; Wenn man da bis zum Horizont diese tiefgefrorene Landschaft in der undurchdringlichen Schwärze der Polarnacht vor sich hat, nur beleuchtet vom Schein der eigenen Stirnlampe, wenn man die Eisrücken schemenhaft im Hintergrund wahrnimmt und dazwischen den Schlagschatten, die flachen Ebenen des Eises – das fühlt sich nicht mehr an, als wäre man auf dem Planeten Erde unterwegs. Das ist, als würde man einen fremden Himmelskörper erkunden. (David Rennert, 8.1.2021)