Ich bin Theologin. Während meines Studiums habe ich die Ausbildung zur ehrenamtlichen Telefonseelsorgerin gemacht. Das war 1992, dann hab ich acht Jahre ehrenamtlich mitgearbeitet, während ich hauptberuflich zunächst in der Erwachsenenbildung und später als Krankenhausseelsorgerin in verschiedenen Spitälern in Wien tätig war.

Antonia Keßelring (52) leitet seit 2020 die Telefonseelsorge Wien. Davor war die Theologin Sterbebegleiterin in verschiedenen Krankenhäusern in Wien.
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Nach 20 Jahren als Krankenhausseelsorgerin, wo ich viel im Hospiz und auf Intensivstationen gearbeitet habe, hab ich mir gedacht, vielleicht darf ich noch einmal einen Tag ohne Sterben verbringen. Jetzt arbeite ich hauptamtlich bei der Telefonseelsorge Wien.

Wir sind rund um die Uhr und jeden Tag erreichbar. Und je weiter der Tag geht, desto mehr Anrufer gibt es. Die meisten rufen uns zwischen 20 und ein Uhr in der Nacht an. Ich denke, es liegt auch daran, dass dann sehr viele andere Bezugspersonen oder andere Stellen schlafen gegangen sind. Da wird dann auch die Einsamkeit größer oder Menschen, die sonst in einem Verband leben, haben dann Zeit für sich. Normalerweise haben wir durchschnittlich hundert Anrufer pro Tag.

Anstieg um die Weihnachtszeit

Vor Weihnachten und in den ersten Wochen eines neuen Jahres spüren wir einen leichten Anstieg. Es scheint, dass ein leeres neues Jahr auch sehr belastend ist. Wobei, die Zahl der Anrufe steigt gar nicht so an, aber die Intensität der Gespräche – die Emotionen, die Verzweiflung, die Trauer -, das steigt. Das heurige Jahr ist auch für uns besonders. Mit dem ersten Lockdown sind unsere Anrufe plötzlich emporgeschnellt, um 50, 75 Prozent, sie sind dann wieder ein bisschen runtergegangen, im Sommer waren es noch so 15 Prozent mehr. Dann mit dem neuen Lockdown, mit dem Attentat, das haben wir sehr stark gespürt – und jetzt noch Weihnachten -, da kommt gerade vieles zusammen.

Durchschnittliche dauert ein Gespräch 15 bis 20 Minuten. Da gibt’s aber ganz kurze Gespräche, wo Menschen nur eine Auskunft haben wollen, dann gibt es aber auch Telefonate, die 45 Minuten dauern können. Beispielsweise wenn Menschen anrufen und erzählen, dass sie mit dem Gedanken spielen, sich das Leben zu nehmen, und das auch schon sehr konkret planen. Da kann das schon länger dauern. Ich sag immer: ‚Alles, was über 45 Minuten dauert, braucht schon einen guten Grund.‘ Ein Gespräch wird nicht allein dadurch hilfreicher, dass es länger dauert.

Hilfe per Telefon

Aber Telefonseelsorge ist nur Telefonseelsorge. Es ist den Mitarbeitern untersagt, sich persönlich zu treffen oder später noch einmal anzurufen. Die Telefonate sind anonym und vertraulich. Es ist streng, aber damit schützen wir auch unsere Mitarbeiter. Weil die Menschen, die sich für ehrenamtliche Telefonseelsorge bewerben, sind normalerweise eher die Menschen, die sich empathisch einlassen, die wollen helfen. Dafür braucht man auch einen seelischen Schutz.

Wir sind Krisenintervention, wir sind Entlastung, wir sind eine niederschwellige Erstanlaufstelle. Für eine regelmäßige kontinuierliche Begleitung braucht es eine andere Ausbildung. Je nachdem, was Thema ist, können wir auf weitere Unterstützungsangebot verweisen. Aber wir erfahren nie, ob ein Anrufer mit Suizidgedanken, ihn begangen hat oder nicht. Was ich gelernt habe, ist wirklich: ‚Man hat nur diesen einen Moment‘ – und in diesem Moment ganz da zu sein, so offen wie möglich, so wertschätzend wie möglich, und dem anderen so weit wie möglich das Gefühl vermitteln, dass man für ihn da ist, das ist es, was wir anbieten können.

Das Thema Angst komme nun öfter vor. Corona habe latente Lebensängste von Menschen sehr stark wachgerufen, sagt Keßelring.
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Alles andere ist die Aufgabe von anderen Stellen. Bei den Themen, die unsere Anrufer beschäftigen, haben wir drei große Drittel. Das erste ist Einsamkeit, das zweite Beziehungsschwierigkeiten – Streit mit Eltern, Kindern, Partnern, Nachbarn, Arbeitskollegen -, und das dritte sind Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Von den allen gibt es dann einen kleinen Prozentsatz, die wirklich anrufen mit mehr oder weniger weit fortgeschrittenen Suizidabsichten. Das ist in allen drei Gruppen ein Thema.

Es gibt auch einen kleinen Prozentsatz, vor allem Frauen, die aus Gewaltbeziehungen heraus anrufen. Da machen wir jetzt die Erfahrung, dass sich diese Frauen eher im Chat melden. Unsere Erklärung dafür ist, dass es für sie leichter ist, in der Stille zu chatten, wenn der Aggressor in der Nähe ist. Und was jetzt ein steigendes Thema ist, ist das Thema Angst. Corona hat latente Lebensängste von Menschen sehr stark wachgerufen.

Unterstützung im Alltag

Aufgrund einer Erkrankung oder weil sie so einsam sind, rufen auch einige Menschen bei uns an, um den Alltag bewältigen zu können. Es gab eine Frau, die abends manchmal angerufen hat, um überhaupt eine menschliche Stimme zu hören, bevor sie schlafen gegangen ist. Man kann sich nicht vorstellen, wie einsam Menschen in dieser Stadt sein können.

Und in den Abend- und Nachtdiensten kann es schon vorkommen, dass man den Hörer auflegt und gleich wieder das nächste Gespräch annimmt. Untertags hat man aber schon auch eine Verschnaufpause. Wir arbeiten ja von unserem Büro in der Innenstadt aus. Jeder sitzt zwar alleine in seinem Raum, es gibt aber Kollegen. Und das ist gut so. Mit denen kann man in einer ruhigen Phase schwierige Gespräche noch einmal durchgehen, denen kann man auch sagen: ‚Ich brauch jetzt eine kurze Pause.‘ Außerdem hat immer einer von den Hauptamtlichen Rufbereitschaft, der kann nach schwierigen Fällen auch zurate gezogen werden. Und einmal im Monat gibt es für alle verpflichtend eine Supervision mit einem Psychotherapeuten.

Kein Homeoffice

Mit unserer Telefonanlage ist es zwar möglich, Anrufe nach Hause umzuleiten, aber ich möchte das nicht in meinem Haus haben. Ich möchte gern, nach einem Dienst und all dem, was da war, das alles dort lassen und gehen können. Ich möchte nicht, dass dieses viele Weinen, diese erschütternden Schicksale, dass die alle in meinem Wohnzimmer sind.

Unsere Devise lautet ja Beziehung vor Intervention. Wenn das gelungen ist, dann war das Telefonat erfolgreich – wenn der Anrufer ein bisschen mehr aufmacht, wenn er uns mehr anvertraut, wenn die Anspannung ein bisschen wegbricht. Das Schönste für uns ist, wenn am Schluss jemand sagt: ‚Danke für das Gespräch.‘ Man kann nachts um zwei keine Lebensprobleme lösen, schon allein, weil der Mensch um diese Uhrzeit vom Biorhythmus her im Stadion einer leichten Depression ist. Der Serotoninhaushalt ist viel geringer als untertags, und alles ist größer, schwerer, deprimierender. Da kann man keine Schritte setzen, aber man kann jemanden so weit entspannen, beruhigen, dass er vielleicht sagt: ‚Ja, jetzt versuche ich noch einmal zu schlafen.‘ (Gudrun Ostermann, 27.12.2020)