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Der Wiener Jan Marsalek hat bei Wirecard Karriere gemacht, mit 30 saß er im Vorstand. Jetzt wird er international gesucht.

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Wien – Der europäische Haftbefehl gegen Jan Marsalek hat es in sich. Auf 13 Seiten zählt das Amtsgericht München die Vorwürfe auf, die dem flüchtigen Exvorstandsmitglied von Wirecard gemacht werden – in Amtsdeutsch heißt es in dem Formular schlicht "Dieser Haftbefehl bezieht sich auf insgesamt 15 Straftaten".

Die Staatsanwaltschaft München wirft dem heute 40-jährigen gebürtigen Wiener unter anderem gewerbsmäßigen Bandenbetrug, Untreue im besonders schweren Fall, Bilanzfälschung und Marktmanipulation vor – alle diese Delikte sind in Deutschland mit Höchststrafen zwischen fünf (Bilanzfälschung) und zehn Jahren bedroht.

Österreicher bei Wirecard

Abgesehen von Marsalek wird gegen mehr als ein Dutzend anderer Personen aus seinem Umfeld ermittelt. Auch der Österreicher Markus Braun, bis zu seinem Rücktritt im vorigen Sommer ebenfalls im Vorstand des Zahlungsverkehrsdienstleisters Wirecard, steht unter Verdacht. Der Tatzeitraum erstreckt sich auf fünf Jahre: 2015 bis 2020.

Das war – vermeintlich – eigentlich die Blütezeit des Unternehmens, das für Unternehmen weltweit die elektronische Abwicklung von Zahlungen übernimmt. Im Herbst 2018 hatte es Wirecard in den Leitindex der Deutschen Börse, den Dax, geschafft. Mit einem Aktienkurs von 200 Euro war die Gesellschaft an der Börse damals rund 23 Milliarden Euro wert. Danach ging es mit dem Kurs bergab, weswegen ab November 2018 Kapital an sogenannte Third Party Acquirer (TPA) floss: an Geschäftspartner, die Firmenkunden für Wirecard aufstellten und so das Wirecard-Geschäft ankurbelten. In der Folge stieg der Umsatz 2019 um 38 Prozent auf fast drei Milliarden Euro, der Gewinn um 40 Prozent auf 785 Mio. Euro.

Luftgeschäft

Allerdings sollen die Beschuldigten – für sie alle gilt die Unschuldsvermutung – unter den Augen von Wirtschaftsprüfern und Aufsehern viele, viele Transaktionen und Geschäftspartner erfunden und die Bilanzen frisiert haben. Im Juni stürzte dieses Kartenhaus in sich zusammen.

Zu wackeln begonnen hatte es schon Jahre davor durch kritische (und stets bestrittene) Berichte der "Financial Times", nun aber war es vorbei: Sonderprüfer KPMG stellte fest, dass allein jene Guthaben von 1,9 Milliarden Euro fehlten, die bei philippinischen Banken liegen sollten.

Flucht & Knast

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Marsalek, der 2010 mit 30 in den Wirecard-Vorstand gekommen war und (wie man nun weiß) in diversen Auslandsgeheimdiensten inklusive österreichischem BVT gut vernetzt war, floh. Braun wurde in U-Haft genommen. Wirecard ging pleite. Der Deutsche Bundestag kümmert sich in einem U-Ausschuss um die Causa. Wirtschaftsprüfer und Aufseher stehen unter massiver Kritik. Ermittlungen laufen inzwischen auch in Österreich: Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft erhebt denVorwurf des schweren Betrugs, Anlegeranwalt Jörg Zarbl hat Braun und Co angezeigt.

Bald nach dem Platzen des Wirecard-Luftballons kamen die Ermittler auch nach Österreich: nach Kitzbühel und Wien-Hietzing, wo Braun Wohnsitze hat und in die Wiener Leopoldstadt zur Wirecard Central Europe GmbH. Am 1. Juli in der Früh schwärmten die Ermittler in Tirol und Wien zu Hausdurchsuchungen aus, dabei waren Vertreter der Staatsanwaltschaft München und ein Kriminalhauptkommissar. das ergibt sich aus einem Bericht der Landespolizeidirektion Wien, der dem STANDARD vorliegt.

Büro ohne Braun

Wobei die Sache im Wirecard-Büro schnell vorbei war. Anders als erwartet fanden die Ermittler, die um neun Uhr früh aufgetaucht waren, keine der gesuchten Daten oder Gegenstände. Zudem stellte sich heraus, dass Ex-Wirecard-Chef Braun dort gar keinen Arbeitsplatz oder Zugriff auf Daten hatte. Kurz nach elf zogen die Ermittler wieder von dannen, ohne etwas mitzunehmen.

Mehr fanden ihre zur gleichen Zeit tätig gewordenen Kollegen in der Hietzinger Villa, in der Braun einen Nebenwohnsitz hat und in der seine Frau und sein kleines Kind wohnen. Von 8 Uhr 45 bis 12 Uhr 40 durchsuchten die Beamten das Haus, Braun selbst war nicht da. Aus seinem Arbeitszimmer nahmen sie jede Menge Aktenordner, Schriftstücke und verschlossene Kuverts mit, aus dem Serverschrank "im Abstellraum nächst Waschküche" elektronisches Gerät.

Ehefrau ließ Ermittler allein

Der von Brauns Frau herbeigerufene Rechtsanwalt legte Widerspruch gegen die Beschlagnahme ein und verlangte die Versiegelung der Unterlagen – allerdings erfolglos. Brauns Frau wartete das Ende der Hausdurchsuchung übrigens nicht ab. Sie verließ die Villa, wie die Beamten protokollierten, "und war als Ansprechpartner vor Ort nicht mehr zur Verfügung".

Über seine Liegenschaft in Hietzing kann Braun derzeit nicht mehr verfügen. Sie wurde von der Justiz mit einem vorläufigen Belastungs- und Veräußerungsverboten belegt. (Renate Graber, 23.12.2020)