Der Sonnenuntergang tunkt den Hafen von Mytilini, der größten Stadt der Ägäisinsel Lesbos, in oranges Licht. Nur wenige Boote haben angelegt. Vier große, graue Schiffe der griechischen Küstenwache liegen direkt im Zentrum der knapp 40.000 Einwohner zählenden Stadt vor Anker. Es sind Kriegsschiffe mit großen, am Bug montierten Geschützen. Einige Männer mit schwarzen Uniformen und Sturmhauben machen sich an den Seilen zu schaffen, andere stehen rauchend an Deck. Darüber tönt blechern Stille Nacht, heilige Nacht, gesungen von einem griechischen Kinderchor, aus Lautsprechern, die an den Straßenlaternen entlang der Hafenpromenade montiert sind. Die Stimmung ist surreal.

STANDARD-Videoreportage: Die griechische Regierung hat 7.500 Migranten in seinem provisorischen Zeltlager namens Karpa Tepe untergebracht. Das Camp wird bei Regen regelmäßig überschwemmt, es gibt keinen Strom und unzureichende Sanitäranlagen.
DER STANDARD

Flüchtlinge kommen hier mittlerweile viel weniger an als in den vergangenen Jahren. Insgesamt sind in Griechenland auf dem Seeweg, also auf allen fünf Inseln der östlichen Ägäis, laut dem Uno-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR heuer 9.675 Migranten angekommen – 84 Prozent weniger als im Vorjahr. Die meisten kommen aus Afghanistan, Syrien und dem Kongo. Tausende leben aber nach wie vor in zwei Lagern, die Luftlinie knapp zwei Kilometer von Mytlini entfernt liegen. Eines davon ist das Zeltlager Kara Tepe oder "Reception and Identification Centre", wie es die Behörden nennen. 7.500 Menschen, davon knapp 2.500 Kinder, sind dort unter widrigsten Bedingungen in Zelten auf einem Militärgelände direkt am Meer untergebracht.

Eine Frage der Koalitionsräson

In Sichtweite liegt ein zweites Camp, das auf der Insel "altes Kara Tepe" genannt wird, weil es schon seit mehreren Jahren existiert. Es liegt auf einem Gelände der Gemeinde Mytilini und wird von dieser in Kooperation mit dem UNHCR betrieben. Dort leben die Menschen in Containern, jeder mit einer Solaranlage auf dem Dach, es gibt funktionierende Sanitäranlagen. SOS Kinderdorf betreibt dort ein Zentrum für rund 200 Kinder. Sowohl Bewohner als auch Helfer sagen, dass die Bedingungen in den beiden Camps nicht miteinander vergleichbar sind. Während die Zustände im Zeltlager menschenunwürdig sind, sind im besseren Containercamp hunderte Plätze gar nicht belegt.

Die Flüchtlingslager auf Lesbos, ob Moria oder Kara Tepe, sind so etwas wie die offene Wunde der türkis-grünen Koalition in Wien. Dass ÖVP und Grüne in der Flüchtlingsfrage grundsätzlich unterschiedliche Positionen einnehmen und jeweils auch sehr unterschiedliche Bedürfnisse ihrer Wählerschaft zu bedienen haben, war von Beginn an klar. Zumindest auf grüner Seite hat man gehofft, dass die Frage des Umgangs mit Flüchtlingen nicht so rasch aufpoppen würde.

Tatsächlich sind die Flüchtlingsbewegungen, überlagert von Corona, kein allzu großes innenpolitisches Thema mehr. Wäre da nicht dieses Lager auf Lesbos, das als Schandfleck, als Mahnmal für das Versagen der Europäischen Union gilt, ein Hort der Unmenschlichkeit. Ein Zustand, den die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten offenbar bewusst in Kauf nehmen, um den Flüchtlingen zu demonstrieren: Das erwartet sie, wenn sie sich auf den Weg nach Europa machen.

Im Jänner, als die Grünen mit der ÖVP die gemeinsame Koalition paktiert hatten, sei das so noch nicht absehbar gewesen, sagt Faika El-Nagashi, Nationalratsabgeordnete der Grünen und für Integrations- und Diversitätspolitik und Zivilgesellschaft zuständig. "Auf Lesbos wird bewusst ein Notstand aufrechterhalten", sagt sie. Und Österreich, ihre Regierung, trägt das mit. Auch ihre Partei trägt das mit: Im Parlament stimmen die Grünen mit der ÖVP (und der FPÖ) gegen die Aufnahme der Flüchtlinge, die sie sonst so vehement einfordern. Koalitionsräson nennt sich das.

Arash und seine Tochter Minou sind vor dreieinhalb Jahren nach Moria gekommen. Damals war Minou sieben Monate alt, heute ist sie viereinhalb Jahre. Sie kennt nichts außer Flüchtlingslager.
Foto: Harun Celik

Der Weg zu den beiden Camps auf Lesbos führt von Mytilini entlang der Küstenstraße Richtung Norden, vorbei an Lagerhallen mit Graffitis wie "Close Moria Smash Facism". Auf dem schmalen Bürgersteig schieben Flüchtlinge Einkaufswägen mit Toilettenpapier und Kartoffelsäcken Richtung Lager, einige davon mit ihren Kindern auf den Schultern. Entlang der Hauptstraße stehen Polizeiautos, vor dem Haupteingang sind zwei Mannschaftsbusse der griechischen Sondereinheit MAT geparkt. Das Camp wird mit Drohnen überwacht, im Lager sind Zivilpolizisten unterwegs. "Um die Lage besser kontrollieren zu können", wie einer von ihnen sagt.

Journalisten dürfen das von der griechischen Regierung betriebene Zeltlager schon seit längerem nicht mehr betreten. Auch alle Anfragen des STANDARD wurden mit der Begründung abgelehnt, dass ein Betreten aufgrund von Covid-19 nicht möglich sei. NGOs haben mittlerweile nur noch mit Akkreditierung Zutritt. Wer mit Journalisten spricht, würde sie verlieren, berichten Helfer. Ein Sprecher des griechischen Migrationsministeriums dementiert das. Flüchtlingen, die Videos weitergeben, drohen 300 Euro Strafe.

Blackbox Kara Tepe

Knapp 500 Meter vom Haupteingang des Camps entfernt gibt es einen Lidl-Supermarkt. Er ist ein Treffpunkt für Campbewohner. 75 Euro pro Monat bekommen sie im Lager, die geben sie hier für das Nötigste aus. Im Moment dürfen sie dieses nur einmal pro Woche für einige Stunden verlassen, denn auch Griechenland befindet sich im Corona-Lockdown. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen darf sich der Rest der Bevölkerung jedoch zum Arbeiten, Einkaufen, Sport treiben, Helfen und für Arzt- sowie Bankbesuche frei bewegen – ähnlich wie in Österreich.

Auf der Mauer neben dem Lidl-Parkplatz sitzt Arash mit seiner kleinen Tochter Minou auf dem Schoß (Namen geändert. Anm.). Sie hält eine Puppe in der Hand und versteckt sich schüchtern hinter ihrem Vater, als wir uns unterhalten. Neben ihnen stehen eine Flasche Sonnenblumenöl und ein Sack Reis, den sie gerade gekauft haben. "Wir wollen damit heute Nachmittag kochen für uns und andere Familien im Lager", sagt der 29-Jährige. In zwei Stunden ist ihre Ausgangszeit vorbei, bis dahin müssen sie wieder im Lager sein. Nächste Woche dürfen sie wieder für vier Stunden hinaus.

7.500 Menschen leben in dem Zeltlager Kara Tepe, weniger als 1.000 in einem besser ausgestatteten Containercamp gleich daneben. Der Lidl-Parkplatz ist Treffpunkt für Flüchtlinge, wenn sie einmal die Woche aus dem Camp dürfen.

Auf die Frage, wie das Leben im Lager ist, schlägt Arash die Hände vors Gesicht und schüttelt den Kopf. "Schlimm", sagt er nur. Gemeinsam mit zwei anderen Familien, insgesamt zehn Personen, leben sie in einem Familienzelt. Ihr Bereich ist knapp fünf Quadratmeter groß. Laut UNHCR sind die Zelte mittlerweile winterfest gemacht, doch sie bestehen aus nichts als einer dünnen Außenplane und einem Innenzelt aus Stoff. Weil die Stromversorgung großteils nicht funktioniert, gibt es keine Zeltheizungen. In den Nächten kühlt es aber bis auf drei Grad ab, und der Winter hat noch gar nicht richtig begonnen.

Kara Tepe heißt "schwarzer Hügel", vielleicht weil das Camp genau am Fuß eines solchen liegt. Das Gelände ist abfallend, nachts bläst der Wind so stark, dass Zelte umgerissen werden. Wenn es regnet, rinnt das Wasser in Sturzbächen durch das Camp, dass die Zelte auf Paletten stehen, hilft da nicht viel. Regelmäßig wird das Lager überschwemmt. Die Feuerwehr versucht dann das Wasser abzupumpen, aber auch drei Tage nach dem Regen ist der Schlamm noch immer ein großes Problem. "Unsere Matratzen und Sachen trocknen nicht, weil es im Camp überall feucht ist", sagt Arash.

Nass und kalt

Vergangene Woche wurde in Kara Tepe ein dreijähriges Mädchen blutüberströmt in einem Waschraum gefunden. Man geht von einer Vergewaltigung aus. "Seitdem lasse ich meine Tochter keinen Moment mehr allein", sagt Arash. Nach mehreren Tagen im Krankenhaus soll die Familie des Mädchens nun in das Containercamp verlegt werden.

Lesbos ist ein Symbol für das Versagen der EU, sagt El-Nagashi, und die Aufnahme von ein paar Flüchtlingen wäre ebenfalls nur ein symbolischer Akt. "Aber es geht immer auch um konkrete Menschen, viele von ihnen Kinder. Daher ist jede einzelne Aufnahme richtig und wichtig, weil es neben der Symbolik auch um Menschenleben geht", sagt die Grüne.

Das Zeltlager Kara Tepe wird regelmäßig überschwemmt.
Foto: AFP / ANTHI PAZIANOU

Keine Frage, das jetzige Wiederaufflammen der Debatte über Hilfe für Flüchtlinge in Kara Tepe hat nicht nur mit den verheerenden Zuständen dort zu tun, sondern auch mit Weihnachten. Mit der Zeit der Barmherzigkeit, der Besinnung auf die Nächstenliebe, mit Erinnerungen an die Herbergssuche von Josef und Maria. Da rührt sich auch etwas bei der ÖVP. In der Weihnachtszeit werden die christlichen Werte wieder präsenter.

Die Parteispitze versucht zu kalmieren, Außenminister Alexander Schallenberg will eine Kinderbetreuungseinrichtung im Lager finanzieren. Eine Genehmigung seitens der griechischen Behörden stand noch aus, die Presseaussendung aber musste rasch hinaus. Am 24. Dezember stimmte Athen dann zu, das bestehende Kinderzentrum von SOS-Kinderdorf im Containercamp von 200 auf 500 Plätze zu erweitern.

Im Zeltlager Kara Tepe gib es derzet keinerlei Infrastruktur für Kinder. Keine Schule, keinen Kindergarten, keinen Platz, an dem sie spielen dürfen. Das Camp befindet sich auf einem ehemaligen Schießplatz des griechischen Militärs. Campbewohner und Aktivisten zeigen Fotos von Patronenhülsen und Granaten im Sand. Manche davon hätten Kinder ausgegraben, sagen sie.

Verlorene Lebenszeit

"Meiner Tochter wird hier die Lebenszeit gestohlen", sagt Arash. Minous Mutter starb bei ihrer Geburt. Vor vier Jahren sind sie gemeinsam aus dem Iran geflüchtet. "Ich wollte einen sicheren Ort für meine Tochter finden, an dem sie glücklich sein kann." Nach Griechenland sind sie nicht wie die meisten hier mit dem Boot aus der Türkei, sondern über den Landweg gekommen. Im Sommer 2017 hat sie die griechische Regierung in das berüchtigte Lager Moria, das im September 2020 abgebrannt ist, verlegt. Bei der Ankunft war Minou sieben Monate alt, heute ist sie viereinhalb Jahre. Sie kennt nichts außer Flüchtlingslager.

Die Zustände im Zeltlager und die fehlende Schulbildung würden viele Kinder nachhaltig in ihrer Entwicklung schädigen, sagt Katrin Brubakk, Psychologin von Ärzte ohne Grenzen. "Wenn sich die Psyche nur mit Überleben beschäftigt, kann sich der Teil des Gehirns, der für gesunde Beziehungen, Aufmerksamkeit und Lernen zuständig ist, überhaupt nicht entwickeln."

Brubakk arbeitet in einer Kinderklinik unweit der Überreste von Moria. Hier können Kinder einmal pro Woche eine Stunde lang unter psychologischer Betreuung spielen, malen, eine Auszeit vom Campalltag nehmen. Die Jüngsten von ihnen sind drei bis vier Jahre alt. "Wir haben viele Kinder, die sich das Leben nehmen wollen", sagt Brubakk. Gewalt im Lager oder der Brand in Moria würde – zusätzlich zu den seelischen Schäden, die die Situation in den Heimatländern verursacht hat – die Kinder retraumatisieren.

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Die Menschen sollen in Kara Tepe bleiben, während bis September 2021 ein neues Lager mit Geldern der EU gebaut wird.
Foto: AP/Michael Varaklas

"Es gibt Kinder, die schlafwandeln und plötzlich loslaufen, weil sie glauben, es brennt." Manche Eltern würden ihre Kinder deshalb nachts am Handgelenk festbinden, damit sie nicht ins Meer laufen können. "Unter diesen Bedingungen kann man natürlich kein Trauma aufarbeiten", sagt Brubakk.

Falsches Signal

Im Moment verschlechtere sich die psychische Situation der Campbewohner drastisch, sagt die Psychologin. Was vielen die letzte Hoffnung raube, sei, dass die Zustände im neuen Lager noch schlechter seien als davor in Moria. "Das Einzige, was besser geworden ist, ist die Gewalt, weil das Camp rund um die Uhr überwacht wird", sagt Brubakk. In Moria sei vieles menschenunwürdig gewesen, aber durch die jahrelange Situation hätten die Menschen begonnen, sich selbst zu organisieren. Viele haben sich ihre eigene Dusche gebaut, es gab Lebensmittelhändler im Lager, Friseure und selbstorganisierte Schulen. "Jetzt leben wir wie in einem Käfig", sagt Arash.

Innenminister Karl Nehammer bekräftigt den Standpunkt der ÖVP: Es werden keine Flüchtlinge aufgenommen. Das würde das falsche Signal senden, einen "Moria-Effekt" auslösen, sodass sich noch mehr Migranten auf den Weg machen. Mehrfach betont Nehammer, dass Flüchtlinge selbst den Brand gelegt hätten. Tatsächlich gehen die griechischen Behörden davon aus, dass einige junge Asylwerber das Feuer gelegt haben, Beweise dafür oder Urteile gibt es aber noch keine. Viele Campbewohner halten griechische Rechtsextreme für die wahren Täter.

"Wir arbeiten uns an dieser Frage ab", sagt El-Nagashi, "das ist ideologisch wirklich verfahren." Es sei wichtig, politischen Druck aufzubauen und auf die ÖVP einzuwirken. Der entscheidende Moment könne aber nur aus der Bevölkerung selbst kommen, ist die Abgeordnete überzeugt. Die Haltung #WirHabenPlatz müsse von Gemeinden, Glaubensgemeinschaften, Städten und Initiativen getragen werden, bis sie auch der Kanzler nicht mehr übergehen könne.

Der Widerstand wächst

Tatsächlich wächst der Druck der Zivilgesellschaft auf die Regierung wieder. Die Schauspielerin Katharina Stemberger hat mit ihrer Initiative "Courage – Mut zur Menschlichkeit", die auch von der Kirche unterstützt wird, mehr als 3000 Plätze in Österreich organisiert, wo Flüchtlinge aus Lesbos untergebracht werden könnten. Und auch innerhalb der ÖVP regt sich Widerstand.

Die Tiroler Landesrätin Beate Palfrader und etliche ÖVP-Bürgermeister fordern ganz offen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Lesbos. Auch in Vorarlberg, Salzburg und Oberösterreich werden ähnliche Stimmen laut. Nicht aber in der Gruppe um Sebastian Kurz. Dort gilt die Losung, dass an der harten und konsequenten Linie, mit der man Wahlen gewonnen und der FPÖ ihre Wähler abspenstig gemacht hat, festzuhalten ist. Integrationsministerin Susanne Raab, die als einziges Regierungsmitglied am Adventbeten im Parlament teilgenommen hat, versichert, dass man die Linie nicht ändern werde. Die ÖVP setze auf Hilfe vor Ort.

"Wir kennen die Position der ÖVP", sagt Ewa Ernst-Dziedzic. "Wir kennen den Rahmen des Möglichen. Aber was auf Lesbos geschieht, sprengt diesen Rahmen. Es geht um eine der größten humanitären Katastrophen auf europäischem Boden." Ernst-Dziedzic ist außenpolitische Sprecherin ihrer Partei und stellvertretende Klubvorsitzende im Nationalrat. Für sie sei klar: "Das Lager gehört sofort evakuiert, Österreich muss sich an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Was dort passiert, ist mit unseren Werten schlicht nicht vereinbar."

Großes Feuer

Arash steht, seine Tochter Minou im Arm, auf einem Trümmerhaufen auf dem Gelände des ehemaligen Moria und zeigt auf die Stelle, wo sie in einem Gebäude mit acht bis zehn anderen Familien untergebracht waren. Übrig sind nur noch verbrannte Erde und Unmengen an Schutt. In der Nacht des 8. September hatten die beiden schon geschlafen, als das Feuer ausbrach. "Es war wie ein Feuerball, erst nur an einer Stelle, dann aber an vielen Stellen gleichzeitig", schildert Arash. Nur eine Decke konnten sie mitnehmen, als sie sich in Sicherheit brachten.

Seit dem Brand vom 8. auf den 9. September ist von Moria nur noch Schutt und Asche übrig.
Foto: Harun Celik

Die nächsten zwei Wochen, bis sie das neue Zeltlager beziehen konnten, verbrachten sie mit knapp 13.000 anderen Menschen auf der Straße. Die Polizei blockierte den Weg nach Mytilini. Sie waren gezwungen, am Lidl-Parkplatz zu schlafen – mit einer Decke auf nacktem Beton.

Knapp eine Woche nach dem Brand, am 16. September, stand Innenminister Nehammer auf der Laderampe der gecharterten Antonow am Flughafen von Athen, um die Entladung der Hilfsgüter aus Österreich zu überwachen. Weißes Hemd, die Ärmel aufgekrempelt, so als wolle er selbst mitanpacken. Ein Fotograf war auch mitgeflogen. 400 Zelte waren an Bord, dazu Matratzen, Polster, Decken, Bettwäsche und Hygienepakete. Österreich war unter den ersten Staaten, die nach dem Brand Hilfsgüter nach Lesbos schicken wollten. Diese verschwanden allerdings in Lagern der griechischen Regierung, erst auf viele Nachfragen hin fand ein kleiner Teil der Zelte den Weg nach Lesbos, jetzt stehen im Lager Kara Tepe 22 Zelte aus Österreich.

Neues Lager geplant

Arashs und Minous Asylanträge wurden mittlerweile in drei Instanzen abgelehnt. "Jetzt haben wir nichts mehr", sagt er und zeigt eine laminierte Plastikkarte mit einem Foto und Geburtsdatum vor – der letzte Identitätsnachweis, der ihm noch geblieben ist. Ob sie abgeschoben werden sollen, weiß er nicht, er will die Hoffnung nicht aufgeben. Sollten europäische Länder Menschen von den Inseln aufnehmen, dann würden die beiden wohl nicht darunter sein.

Die Suche nach einem besseren Leben ist kein Asylgrund. "Darum geht es hier aber auch nicht", sagt Christoph Riedl vom Diakonie Flüchtlingsdienst, der vor zwei Wochen selbst auf Lesbos war. "Die Menschen haben ein Recht auf ein faires Asylverfahren. Ob das bei diesem jungen Mann der Fall war, ist aus der Ferne schwer zu beurteilen. Unabhängig davon hat aber auch er ein Recht, während seines Verfahrens menschenwürdig untergebracht zu werden."

"Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei im neuen Lager die Kontrolle verliert und es wieder Gewalt gibt", sagt Efi Latsoudi. Sie lebt seit 20 Jahren auf Lesbos und unterstützt mit ihrer Organisation Solidarity Lesvos Flüchtlinge vor Ort. 2012 hat sie auf dem Gelände eines ehemaligen Jugendferiencamps das Flüchtlingslager Pikpa mitaufgebaut. Dort konnten zwar nur knapp 100 Menschen untergebracht werden, dafür unter guten Bedingungen. Ausgewählt wurden die vulnerabelsten Bewohner aus Moria – Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden, zum Beispiel.

Container statt Zelte

Ende Oktober erklärte die griechische Regierung, dass das Camp geschlossen werde. Man wolle keine eigenständigen Lager mehr. Obwohl eine 15-tägige Übergangsfrist für die Übersiedelung versprochen wurde, rückten am ersten Tag der Frist Sondereinheiten an, um die Bewohner abzuholen.

Bald soll auch das im Vergleich zum Zeltlager bessere Containercamp Kara Tepe geschlossen werden. Ein Teil der Bewohner soll laut griechischem Migrationsministerium von Deutschland aufgenommen werden, was mit dem Rest passieren soll, ist unklar. "Der Plan der Regierung sind geschlossene Camps, aus denen die Menschen nicht hinausdürfen", sagt Latsoudi. Tatsächlich plant die griechische Regierung, mit Geldern der EU im Inselinneren 45 Kilometer von Mytilini entfernt bis September 2021 ein neues Camp zu bauen – diesmal mit echten Gebäuden. Keiner der Bewohner soll es verlassen dürfen,

Die Gemeinde Mytilini begrüßt dieses Vorhaben. Das sei man der Bevölkerung schuldig, sagt Tasos Balis, der Berater des Bürgermeisters in Flüchtlingsfragen. "Es ist das erste Mal seit langem, dass wir das Gefühl haben, unsere Regierung legt einen Plan auf den Tisch", sagt er. Zur Situation in dem aktuellen Zeltlager Kara Tepe sagt er offen: "Wir wissen, dass die Menschen dort leiden. Und wir wissen, dass das eine Schande für Europa und unsere Stadt ist." Man fühle sich jedoch von der eigenen Regierung, aber auch der EU alleingelassen. Was die Hilfe aus Europa, aber auch aus Österreich angeht, sagt er: "Niemand hat nach Geld gefragt. Wir brauchen auch keine Zelte. Nehmt Menschen von den Inseln auf!" (Johannes Pucher, Michael Völker, 25.12.2020)