Manchmal wach ich auf mit einem Grinser im Gesicht. In dem Moment denk ich mir: Geil, ich war wieder Skispringen. Das passiert, wenn ich geträumt habe. Es kommt nicht jede Nacht vor, auch nicht jede Woche, aber immer wieder. In meinen Träumen spring ich irrational gut. Richtig Spaß macht mir das, auch noch beim Aufwachen. Da muss ich einfach grinsen.

Wobei es nicht so ist, dass meine jetzige Situation im Traum gar keine Rolle spielt. Oft fahr ich mit dem Rollstuhl zur Schanze, dann geh ich Skispringen, und dann fahr ich mit dem Rollstuhl wieder weg.

Lukas Müller: "Der Sprung, mein letzter Sprung, wäre richtig gut geworden, 220 Meter waren auf jeden Fall drin. Ich hab auf 235 Meter runtergeschaut, und die Verhältnisse waren gut. Es zipft mich schon an. Es wurmt mich bis zum heutigen Tag, dass ich den nicht zu Ende gesprungen bin."
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Der Unfall ist jetzt bald fünf Jahre her. Mein zweiter Geburtstag rückt näher, so seh ich das. Es ist eine Teils-teils-Betrachtung. Wie mein Sturz passiert ist, was da alles zusammengekommen ist, der Genickbruch, das war natürlich brutales Pech. Aber ich weiß, es hätte auch anders ausgehen können, schlimmer. Ich kenne viele, denen es nicht so gut geht wie mir.

Bis zu dem Tag, bis zum 13. Jänner 2016, war ich überzeugt davon, dass ein Genickbruch tödlich ist. Jetzt weiß ich, das muss nicht sein. Sonst würd ich im Grab liegen, sonst wär ich nicht hier. Deshalb rede ich von meinem zweiten Geburtstag.

Vielleicht hab ich als ehemaliger Spitzensportler bei der Querschnittlähmung einen Startvorteil gehabt. Aber das, was ich kann, trau ich jedem zu. Die Reha nach meinem Unfall hat fünf Monate lang gedauert. Und die ersten fünf Wochen bin ich nur gelegen. Da ist dieser Wunsch entstanden, dass ich mir so viel Hoheit wie möglich zurückerobern will über das eigene Leben. Ich hab viel geschafft, ich bin froh, dass ich unabhängig bin. Ich kann den ganzen Tag allein verbringen, brauche selten Hilfe. Vielleicht wenn einmal ein Viech an der Decke sitzt, das man besser erschlagen sollte, oder wenn ich etwas brauche, das im Kasten weit oben liegt.

Zwei Sekunden

Ich weiß jetzt das meiste über meinen Körper, aber er überrascht mich immer wieder. Ich lerne ihn jeden Tag neu kennen. Klar hab ich mehr Oberkörper als früher. Ich war ja mehr als ein Jahrzehnt darauf konditioniert, schmal zu sein und die Kraft eher unten zu haben. Jetzt ist es genau umgekehrt.

Eine Querschnittlähmung bedeutet viel mehr, als nicht mehr gehen zu können. Da sind sehr elementare Dinge betroffen. Damit geht viel einher, das nicht sichtbar ist. Gefühlsausfälle, Phantomschmerzen. Nur ein Beispiel: Ich hab am Rumpf ein Missempfinden. Das zeigt sich, wenn ich die Dusche aufdrehe. Der erste Kontakt mit dem Wasser fühlt sich an wie unzählige Nadelstiche. Das dauert zwei Sekunden, dann ist es weg, aber die zwei Sekunden tun höllisch weh.

In drei Etappen hab ich die Querschnittlähmung realisiert. Punkt eins war der Aufschlag aus sieben Metern Höhe mit 120 km/h. Punkt zwei war, als ich versucht habe, mich auf den Bauch zu drehen, aber nichts mehr gegangen ist. Punkt drei war am nächsten Tag das erste Gespräch mit dem Arzt. Das war wie nach einer Schularbeit. Du weißt, du hast sie verhaut, aber insgeheim hoffst du doch noch auf einen Vierer. Dann kriegst du sie zurück, und natürlich ist es ein Fetzen.

"Ein paar Tage im Jahr gibt es, an denen ich hadere. Sie dürfen nur nicht zu viele werden."
Foto: Franz Oss

Ich war statt einer Woche nur eine Nacht im künstlichen Tiefschlaf, sie haben dann probeweise versucht, mich aufzuwecken, das hat überraschend gut funktioniert. Der Arzt hat mich gefragt, ob ich weiß, wer und wo ich bin. Dann wollte er mir Länge mal Breite erzählen, was er gemacht hat.

Zwei Sätze

Ich hab mir gedacht, die Laberei kann ich mir später noch anhören, hab ihn unterbrochen und gefragt, ob es ein Querschnitt ist. Er hat das bejaht, aber gleich dazugesagt, dass Kopf und Hände mein Startkapital sind und es sich damit gut leben lässt. Das sind bis heute die zwei wichtigsten Sätze für mich.

Wir alle sind irgendwann kleine Kinder gewesen. Wir sind unzählige Male hingefallen, bevor wir gehen konnten. Aber wir haben nicht darüber nachgedacht. Nachdenken macht natürlich Sinn, aber durch das ständige Überlegen nehmen wir uns selbst auch gewisse Chancen. Wir lähmen uns. Ich sag das ganz bewusst so, die Metapher passt einfach oft. Mein Ziel ist es, vorzubeugen, ich will Chancen ergreifen, um möglichst oft sagen zu können: Ich lähme mich nicht.

98 Prozent der Zeit, in der ich unterwegs bin, sitz ich im Rollstuhl. Bei einer Stufe kann ich kurz aufstehen, den Rollstuhl raufheben und mich wieder reinsetzen. Im Juli hab ich mit Krücken den 1042 Meter hohen Nockstein bestiegen, das war grenzwertig, aber ich wollte es wissen. Ich hab es zum Gipfelkreuz geschafft, da war ich kurz stolz auf mich, das kommt sonst fast nie vor.

Ein paar Tage im Jahr gibt es, an denen ich hadere. Sie dürfen nur nicht zu viele werden. Ich hab mich seit dem Unfall persönlich sicher weiterentwickelt. Wichtig ist, dass man über sich und über sein Schicksal auch lachen kann. Ein Witz über Rollstuhlfahrer? Witze über Rollstuhlfahrer gehen gar nicht! Der muss sickern. Als ich den zum ersten Mal gehört hab, hat es auch gedauert, bis er gesickert ist.

Die gesundheitlichen Einschränkungen sind massiv, ich kann und will nichts in Relation stellen. Es ist aber auch wurscht. Ich hab ein komplett lebenswertes Leben. Allein weil ich in der Geburtslandlotterie das Los Österreich gezogen hab, kann ich mir alle zehn Finger abschlecken. Punkto Versorgung oder Barrierefreiheit hätte ich es viel schlechter erwischen können.

Ein Urteil

Eine große Erleichterung war, dass mein Unfall nach mehr als drei Jahren vor Gericht als Arbeitsunfall bewertet wurde. Der Skiverband hatte mich nicht bei der Sozialversicherung angemeldet, er wäre aber dazu verpflichtet gewesen. Ich finde, ich hab dem ÖSV einen Dienst erwiesen, jetzt gibt es Rechtssicherheit auch für viele andere. Dass der Verband das Gerichtsurteil als "Einzelfallentscheidung" tituliert hat, war schon so, als würden sie mir im Nachhinein noch den Hintern ins Gesicht strecken.

Verbitterung empfinde ich aber nicht. Mit den Ex-Kollegen versteh ich mich sowieso gut. Vor jeder Vierschanzentournee fängt es leicht zu kribbeln an. Die Tournee vor vier Jahren war die erste, die ich aus dem Rollstuhl heraus verfolgt habe. Das war schwierig zu realisieren, dass mir das Saisonhighlight ab sofort definitiv verwehrt bleibt.

Der Sprung, mein letzter Sprung, wäre richtig gut geworden, 220 Meter waren auf jeden Fall drin. Ich hab auf 235 Meter runtergeschaut, und die Verhältnisse waren gut. Es zipft mich schon an. Es wurmt mich bis zum heutigen Tag, dass ich den nicht zu Ende gesprungen bin.

Das Video von meinem Sturz hab ich oft gesehen, ich hab kein Problem damit. Der Sturz ist Teil meiner Lebensgeschichte. Es gibt ein Foto, das genau den Moment festhält, in dem mein Genick bricht. Erst ein Jahr nach dem Sturz hab ich bemerkt, dass gleichzeitig die Finger meiner linken Hand ein Victory-Zeichen formen. Da hab ich lachen müssen. Ein Victory-Zeichen! (Zugehört und aufgezeichnet hat: Fritz Neumann, 25.12.2020)