Der britische Premier Boris Johnson freut sich, ein Problem gelöst zu haben, das er selbst verursacht hatte.

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Gerade ein Brite brach nach dem Zweiten Weltkrieg als erster Staatsmann der Siegermächte eine Lanze für die Vereinigung Europas. Nur zum Europa, das er meinte, gehörte sein Land nicht dazu.

Es war kein anderer als Winston Churchill, der in seiner Rede an der Universität Zürich 1946 die friedliche "Auferstehung" des Kontinents und "eine Art Vereinigte Staaten von Europa" herbeisehnte. Für Churchill lag dieses Europa über dem Ärmelkanal, drüben auf dem Kontinent. Großbritannien habe ja sein eigenes Commonwealth, so der Premierminister damals. Siebzig Jahre danach – zwei Monate vor dem Referendum – hielt Boris Johnson, Biograf und Bewunderer Churchills, seine Rede zu Europa. Mit dem Slogan "Take back control" warf er sich für die "Brexiteers" in die Schlacht. Nur allein, außerhalb der Union, könne sein Land wirklich frei sein und wieder prosperieren, deklarierte er.

"Take back control"

Das Referendum 2016 wäre wohl anders ausgegangen, hätte Johnson nicht so erfolgreich für den Austritt mobilisiert. Mit "Get Brexit Done" gewann er dann vor einem Jahr die Wahl zum Premierminister. Slogans erfinden, Geschichten erzählen und "bullshitten": Das kann er. Schon zu Studienzeiten hat Johnson diese Talente im elitären Paralleluniversum, dem Debattierklub Oxford Union, perfektioniert. Zwei historische Reden, zwei Politiker – der eine ein politisches Schwergewicht, der andere ein Scharlatan –, beide irrten im Glauben, dass es für Großbritannien besser sei, abseits von Europa zu stehen.

Dazwischen lagen 47 Jahre, in denen die Briten die EU als pragmatischer Gegenpol zu den oft verkopften Franzosen und Deutschen mitgestalteten. Sie wirkten als Reformtreiber in Bereichen wie dem Wettbewerbsrecht, der Agrarpolitik und ironischerweise der Fischerei. Sie brachten ihr Verständnis von Demokratie und Grundrechten ein. Ihr Nonkonformismus tat Europa gut, und er wird fehlen. Johnson und seine Schwafeleien hingegen nicht. Nun besiegelt der Brexit nicht das Ende der EU, sondern das von Großbritannien, wie wir es kennen. Er beschleunigt den Desintegrationsprozess des Landes. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Schottland sein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten kann und nach über 300 Jahren wieder seinen eigenen Weg geht.

Schottische Eigenständigkeit?

Der Wunsch der Mehrheit der Schotten, Teil der EU zu bleiben, verleiht den Befürwortern schottischer Eigenständigkeit Auftrieb. Überraschender mag sein, dass sich auch Nordirland von London verabschieden könnte. Die formelle Abspaltung kann noch länger dauern, aber de facto rückt der Landesteil nun näher an das EU-Mitglied Irland. Die Grundlagen dafür wurden mit dem Brexit-Abkommen gelegt. Dieses gibt Nordirland einen regulatorischen Sonderstatus, als wäre es noch Teil der EU, inklusive einer weiterhin offenen Grenze zu Irland.

Möglicherweise wird Nordirland davon am meisten profitieren. Aber auch die Corona-Krise tut das ihre dazu. Hatten die Nordiren viel auf das britische Gesundheitssystem gehalten, erleben sie nun den nahen Zusammenbruch des NHS. Mittlerweile befinden sich irische Ambulanzen samt Sanitätern im Assistenzeinsatz im Norden. Ein weiterer, symbolischer Akt der Annäherung und eine weitere Entfremdung von London, der zukünftigen Hauptstadt des Vereinigten Königreichs von England und Wales. (Philippe Narval, 27.12.2020)