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EU-Chefverhandler Barnier trägt knapp 1.300 Seiten Post-Brexit-Deal.

Foto: AP/Olivier Hoslet

London/Brüssel/Dublin – Zwei Tage nach ihrer Einigung haben Großbritannien und die EU den vollständigen Text ihres Post-Brexit-Abkommens veröffentlicht. Im Vorwort der am Stefanitag von der britischen Regierung veröffentlichten Version schreibt Premierminister Boris Johnson, das knapp 1.300 Seiten umfassende Dokument bewahre "den freien Handel für Millionen Menschen im Vereinigten Königreich und in Europa". Das Abkommen soll am 1. Jänner vorläufig in Kraft treten.

Zwar habe auch London Kompromisse gemacht, "aber wir sind immer beim Ziel geblieben, die nationale Souveränität wiederherzustellen", erklärte Johnson. Der britische Staatssekretär Michael Gove schrieb in der "Times", das Abkommen ermögliche "Innovation und Investitionen" in britischen Regionen, die einen wirtschaftlichen Niedergang erlebt hätten.

Johnson schrieb am Sonntag in einem Gastbeitrag für den "Telegraph", es liege nun "an uns, die Möglichkeiten zu nutzen". "Freiheit ist, was du daraus machst", sagte der Premier. In Bereichen wie Tierwohlstandards sowie Regeln für Chemikalien oder den Datenschutz sei das Land künftig unabhängig von der EU und müsse das nutzen. Er fügte jedoch hinzu, dass der Deal – etwa für den Finanzsektor – nicht so weit gehe, wie man es sich erhofft hatte. Schatzkanzler Rishi Sunak kündigte in der "Mail on Sunday" den Beginn einer "neuen Ära" an. Er wolle in die Infrastruktur des Landes investieren und Unternehmer sollten für ihren Mut belohnt werden.

Varadkar betont Großbritanniens Abhängigkeit

Dagegen betonte der irische Vizepremier Leo Varadkar die künftige Abhängigkeit Großbritanniens vom europäischen Binnenmarkt. "Wenn Europa die Erde ist, dann ist Großbritannien, da es viel kleiner ist, der Mond", sagte Varadkar am Sonntag dem irischen Sender "NewstalkFM". Großbritannien habe zwar die EU verlassen, nicht jedoch Europa. Zwar könnten die Briten künftig ihre Umwelt, Lebensmittel- und Sicherheitsstandards selbst festlegen – aber: "Wenn sie ihre Standards reduzieren oder nicht mit unserem mithalten, könnte ihr Zugang zu unserem Markt gefährdet sein", sagte der Politiker der Fine Gael-Partei. "Sie müssen also zu großen Teilen europäischen Regeln folgen, wo sie relevant sind."

Die Einigung auf das Handelsabkommen war am Donnerstag nur wenige Tage vor dem Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt zum Jahreswechsel erzielt worden. Das Abkommen sieht einen Handel ohne Zölle vor. Gleichzeitig regelt es Fragen wie die künftige Polizei- und Justizzusammenarbeit oder die soziale Absicherung von Bürgern beider Seiten.

Tritt vorläufig in Kraft

Weil die Zeit zur Ratifizierung des Abkommens durch die EU-Staaten nicht mehr ausreicht, soll das Abkommen am 1. Jänner zunächst vorläufig in Kraft treten. Das britische Parlament soll in einer Sondersitzung am 30. Dezember über den Vertrag abstimmen. Eine Billigung durch die Abgeordneten gilt als sicher. Die oppositionelle Labour Party hat bereits angekündigt, für das Abkommen zu stimmen. Labour-Chef Keir Starmer betonte jedoch, dass die Zustimmung nur dem Wunsch geschuldet sei, einen chaotischen No-Deal-Brexit zu verhindern. Das Abkommen sei nämlich "nicht der Deal, den die Regierung versprochen hat", so Starmer.

Laut einem Vorschlag der EU-Kommission soll das Abkommen bis 28. Februar provisorisch angewandt werden. Bevor es formal in Kraft treten kann, muss es vom EU-Parlament sowie den Regierungen aller 27 Mitgliedsstaaten gebilligt werden. Das von EU-Chefunterhändler Michel Barnier und der EU-Kommission ausgehandelte Abkommen wird nun eingehend in allen Hauptstädten geprüft.

Ein Sprecher der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sprach von einer "gewaltigen Aufgabe". Denn schon das eigentliche Handelsabkommen hat einen Umfang von 1.246 Seiten. Hinzu kommen noch weitere Vereinbarungen etwa zur Zusammenarbeit mit der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom).

EU-Botschafter beraten am Montag

Das nächste Treffen der EU-Botschafter ist für Montag geplant, um über Reaktionen, Fragen und mögliche Einwände der Mitgliedsstaaten zu beraten. Geht alles gut, leiten die Botschafter dabei ein schriftliches Verfahren ein, das den Weg für die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung des Abkommens frei machen würde.

Die vorläufige Anwendung sei "ein außergewöhnlicher Schritt", erklärte der Sprecher des deutschen EU-Vorsitzes. Ziel sei es, "eine erhebliche Störung der Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien mit schwerwiegenden Folgen für Bürger und Unternehmen" nach Ende der Brexit-Übergangszeit zu verhindern. Gleichzeitig schaffe die vorläufige Anwendung die Zeit für "eine ordnungsgemäße und vollständige demokratische Prüfung des Abkommensentwurfs durch das Europäische Parlament", erklärte der Diplomat.

Trotz der verbreiteten Erleichterung über den in letzter Minute abgewendeten harten Brexit gab es in Brüssel auch kritische Stimmen. Ein EU-Diplomat beschrieb die Stimmung als wenig freudvoll, "denn eine Scheidung ist nicht wirklich eine gute Nachricht". Ein weiterer warnte: "Wir sollten den wirtschaftlichen Schock nicht unterschätzen, den Großbritannien erleben wird."

Kein Erasmus-Kompromiss

Schwerwiegende Folgen hat das Abkommen unter anderem für junge Menschen. So steigt Großbritannien im Zuge des Deals nach fast 34 Jahren aus dem Erasmus-Programm für Studierende aus, wie Johnson am Donnerstag bekanntgab.

"Schmerzhafte Einschnitte" bringt das Abkommen nach den Worten der deutschen Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner zudem für die europäischen Fischer. Auch die deutschen Fischer müssten künftig "auf einen Teil der Fänge in der Nordsee" verzichten, erklärte sie am Freitag. Es sei aber klar, dass den Fischern "in dieser schwierigen Lage unter die Arme" gegriffen werden müsse. Auch die französische Regierung kündigte staatliche Hilfe für den Fischereisektor an.

Die Fischerei war eines der größten Streitthemen bei den Verhandlungen über ein Post-Brexit-Handelsabkommen. Brüssel und London einigten sich schließlich auf eine fünfeinhalbjährige Übergangsphase. In dieser Zeit sollen die Fangrechte für EU-Fischer um 25 Prozent gekürzt werden. Ab Juni 2026 soll dann jährlich über die Fangquoten mit Großbritannien verhandelt werden. (APA, 27.12.2020)