Auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kommt viel Arbeit zu: Sie wird weitere Handelsabkommen verhandeln müssen.

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Das vor der Weihnachtsnacht verkündete Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien ist kein Heilsversprechen, bringt keinen Erlöser. Beim Brexit gibt es keinen Gewinner, sagt EU-Chefverhandler Michel Barnier. Beide Seiten haben schon verloren. Der EU-Austritt der Briten ist ein Faktum seit elf Monaten, müßig, darüber zu klagen.

Es ging kurz vor Ende der Übergangsfrist am 31. Dezember, nach der die EU-Regelungen auslaufen, nur darum, den Schaden nicht noch größer werden zu lassen. Lkw-Chaos und Versorgungsengpässe nach den wegen Corona verhängten Grenzsperren hatten gezeigt, was passiert, wenn eng verflochtene EU-Staaten plötzlich auf Absperrung umschalten.

Insofern ist das jüngste Brexit-Packerl viel wert. Und "fair", wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte. Der britische Premier Boris Johnson ist eingeknickt. Er hat akzeptiert, dass sein Land eben nicht ganz souverän ist, sondern die EU-Produktionsregeln und -Standards im Binnenmarkt weiter respektieren muss, wenn es dem Kontinent zollfrei Waren liefert. Zugeständnisse bekam er bei Fischereirechten.

Enge Handelspartner

Die EU und Großbritannien bleiben enge Handelspartner. Das Volumen frei ausgetauschter Waren beträgt knapp 1000 Milliarden Euro, mehr als sonst wo in der Welt. Das Besondere daran ist, dass ein integriertes Mitglied der Gemeinschaft nun rückabgewickelt wird: kontrollierte Entfernung statt Annäherung nach dem EU-Beitritt 1973.

Der freie Personenverkehr ist zu Ende. Arbeitskräfte können schon 2021 nicht mehr so einfach ausgetauscht werden. Im Dienstleistungsbereich ist vieles offen. Bitter: Weil die Briten beim Erasmus-Programm aussteigen, werden ausgerechnet die Jungen, die Studierenden, sich nicht mehr so frei zwischen Universitäten bewegen können.

Auffällig ist, wie rasch von der Leyen und Johnson geistig umgeschaltet, den Blick in die Zukunft gerichtet haben: "Kapitel Brexit geschlossen." Auf beide kommen 2021 noch viel größere Herausforderungen zu, gegen die der Handelspakt wie eine "Kleinigkeit" erscheint. Der enorme Wirtschaftseinbruch durch die Corona-Pandemie ist nicht gebannt. Der Klimawandel schreitet fort. Am 20. Jänner wird Joe Biden als neuer US-Präsident angelobt, der von Donald Trump eine nie dagewesene Eiszeit in den transatlantischen Beziehungen erbt.

Sehnsucht nach dem alten "Empire"

Wollen die Europäer – EU-27 wie die Briten – in der Welt von morgen neben China und dem Aufsteiger Indien noch eine wichtige Rolle spielen, müssen beide die Partnerschaft mit den USA flottkriegen. Johnson zeichnet das Bild eines neuen Großbritannien, das sich den globalen Märkten stellen, bei Forschung, Digitalisierung und Dienstleistungen Gas geben will.

Das klingt, wie immer bei Johnson, nach Größenwahn, Sehnsucht nach dem alten "Empire". Aber man sollte die Briten nie unterschätzen. Die EU-27 haben jedenfalls nicht mehr die Ausrede, dass London in Brüssel alles verhindert. Sie sind nun Partner und Konkurrenten. Der neue Vertrag ist nicht Abschluss von etwas, sondern viel eher der Auftakt für Neues. (Thomas Mayer, 27.12.2020)