Katharina Adegbite-Lewy ist Vorsitzende eines Schöffengerichts, das über eine Raubserie mit seltsamen Aspekten urteilen muss.

Foto: Heribert Corn

Wien – Das Interessante an Menschen und ihren Leben ist, dass sie oft vielschichtig sind und die erste Vermutung täuschen kann. So wie beim 19-jährigen Angeklagten R., der sich wegen Raubüberfällen vor einem Schöffengericht unter Vorsitz von Katharina Adegbite-Lewy verantworten muss. Denn wer hinter dem gebürtigen Afghanen eine gescheiterte Existenz und einen skrupellosen Serientäter erwartet, wird eines Besseren belehrt.

Das beginnt schon bei seinem Äußeren: Der 2009 nach Österreich gekommene R. würde durchaus auch als 16 durchgehen. Der Teenager ist auch unbescholten, der Jugendgerichtshilfe gestand er als schlimmsten Gesetzesbruch, dass er bereits einmal Marihuana geraucht habe. Und er besucht die 7. Klasse eines Gymnasiums und möchte Architekt werden.

Freizeit und falsche Freunde

Warum hat er also im November in vier Tagen ebenso viele Menschen ausgeraubt oder es versucht? Die Vorsitzende fragt genau das. Die Antwort: "Ich hatte etwas zu viel Freizeit und einen falschen Freundeskreis. Ich habe mich vom falschen Wind treiben lassen." Der Teenager spricht leise und wirkt schüchtern. Was auch bei den Taten eine Rolle spielte.

R. kontaktierte drei seiner Opfer auf einer Verkaufsplattform im Internet und vereinbarte die Übergabe von Ware gegen Geld an öffentlichen Orten. Schon der erste Coup am 14. November lief anders als geplant. Das Opfer, ein 22-jähriger Jusstudent, traf sich mit R. bei einer U-Bahn-Station, um im Auftrag seines Bruders ein iPhone um 1.300 Euro zu verkaufen.

"Er hat meinem Bruder gesagt, er leidet an Soziophobie, deshalb war ein Hinterausgang vereinbart", erinnert sich der Student als Zeuge. Er ließ R. damals vor der Übergabe noch einen Haftungsausschluss unterschreiben, bekam statt des Geldes aber ein Schriftstück zurück.

"Weißt was, das wird nix"

"Ich habe es nur überflogen und 'Wertgegenstände', 'Waffe' und 'Psychopath' gelesen", sagt der Zeuge. Da er selbst Erfahrung mit Schusswaffen hat und bei R. keine sah, hielt er es für ein kalkulierbares Risiko, den Raubversuch zu ignorieren. "Ich habe ihm gesagt: 'Weißt was, das wird nix.' Er hat verdutzt geschaut, und ich bin gegangen."

Nach seiner Festnahme sagte der Angeklagte bei der Polizei, auf dem Zettel sei gestanden: "Geben Sie mir alle Wertgegenstände, die Sie haben. Ich habe eine Waffe. Leider bin ich ein Psychopath." Vorsitzende Adegbite-Lewy bohrt bei R. nach: "Warum haben Sie einen Zettel gehabt und das nicht einfach gesagt?" – "Ich war nicht mutig genug", sagt der Angeklagte leise.

Am 14. November fuhr R. in einen anderen Teil von Wien und wollte es bei einer jungen Passantin versuchen. Der zeigte er sogar den im Hosenbund steckenden Knauf der von einem Freund geborgten Spielzeugpistole. Der Erfolg blieb dennoch überschaubar. "Ich habe ihm gesagt, ich habe zwei Kinder, hole meinen Mann von der Arbeit ab und habe keine Wertgegenstände dabei", schildert diese Zeugin.

Zwei Zigaretten als Beute

R.s Reaktion war pythonesk: "Er fragte, ob ich vielleicht Zigaretten dabeihabe." Hatte die Frau, sie gab dem Angeklagten zwei Stück, der ging zufrieden von dannen. "Sie könnten sich als Privatbeteiligte anschließen und den Wert der zwei Zigaretten zurückfordern", bietet die Vorsitzende an. Die Zeugin lacht und verzichtet darauf.

Zwei Tage später, am 16. November, versuchte R. es wieder. Er vereinbarte über Whatsapp ein Treffen mit einer 22-jährigen Köchin, die um 100 Euro ein Sammelsurium loswerden wollte: Schmuck, Uhren, ein Messer und eine Nintendo DS. Die Angestellte nahm zur Sicherheit einen Bekannten zur Übergabe mit, davon ließ der Angeklagte sich nicht beeindrucken.

"Ich habe ihm den Sack mit den Sachen gegeben und erwartet, dass er mir das Geld gibt", erzählt diese Zeugin. Stattdessen habe R. ihr wieder den Knauf in seinem Hosenbund gezeigt und gesagt: "Lauf, oder ich erschieß dich!" – was die Opfer auch befolgten.

Keinen Plan für Verwertung

Diesmal hatte R. also Beute, nun kommt allerdings ein weiterer seltsamer Aspekt des Falles zum Tragen. Denn er hortete die Sachen in seinem Zimmer in der elterlichen Wohnung. "Warum haben Sie das gemacht? Was war Ihr Motiv?", will Adegbite-Lewy daher vom Angeklagten wissen. "Ich hatte ehrlich gesagt keinen Plan, was ich mit der Beute machen will", antwortet R. höflich. Lediglich Armbänder im Wert von zehn Euro wurden bei der Hausdurchsuchung nicht gefunden, R. beteuert, er wisse nicht mehr, wo er die Stücke hingelegt habe.

Auch sein Motiv bleibt vage: Er sagt, er habe seine – falschen – Freunde mit den Taten beeindrucken wollen. "Aber die waren ja gar nicht dabei?", wundert sich die Vorsitzende. "Ich wollte es ihnen nachher erzählen." Noch etwas interessiert Adegbite-Lewy: "Sie haben Anfangs gesagt, Sie hätten zu viel Freizeit gehabt? Ich dachte, Sie sind in der 7. Klasse Gymnasium?" – "Durch Corona haben wir Heimunterricht und nur ein paar Videokonferenzen am Vormittag und zu Mittag", erläutert der Angeklagte. "Ja, aber Sie müssen ja Aufgaben machen?" – "Die habe ich am Abend gemacht."

Opfer kehrte zurück zu Eltern

Im November wartete R. wieder zwei Tage, ehe er sein letztes Opfer traf: einen 16-Jährigen, der seine Airpods-Kopfhörer verkaufen wollte. Sonja Scheed, die Privatbeteiligtenvertreterin des 16-Jährigen, will für ihren Mandanten 110 Euro Schmerzensgeld für den erlittenen Schock. Der im weitesten Sinn sogar etwas Gutes hatte, wie Scheed verrät: "Er hatte danach Angst in Wien und ist wieder zurück aus einer Wohngemeinschaft zu seinen Eltern gezogen." Auch die Airpods wurden bei R. gefunden.

"Wie soll es mit Ihnen weitergehen?", fragt die Vorsitzende den Angeklagten, der seit 23. November in Untersuchungshaft sitzt. Er wolle unbedingt die Schule fertig machen, nach der Haftentlassung möchte er auch zu seiner, im Saal anwesenden, älteren Schwester ziehen, da er dort mehr Platz habe, skizziert der 19-Jährige. Sein Verteidiger Ronald Geppl weist den Senat auch noch darauf hin, dass R. wegen Selbstgefährdung in der Haft bereits in psychiatrischer Behandlung gewesen sei.

"Ordentliche kriminelle Energie"

Nach 15 Minuten Beratung verurteilt das Gericht R. zu 18 Monaten Haft, sechs davon unbedingt. Dem 16-Jährigen muss er 110 Euro zahlen, der 22-Jährigen zehn Euro, zusätzlich wird Bewährungshilfe angeordnet. "Die Strafandrohung beträgt bei Ihnen sechs Monate bis zehn Jahre. Eine gänzlich bedingte Strafe war nicht möglich, es waren vier Verbrechen, das ist schon eine ordentliche kriminelle Energie", begründet Adegbite-Lewy.

"Beraten Sie sich jetzt mit Ihrem Verteidiger, aber behalten Sie im Hinterkopf, dass es auch die Möglichkeit eines Haftaufschubs gibt, bis Sie eine bereits begonnene Ausbildung abgeschlossen haben", motiviert die Vorsitzende den Angeklagten. Der akzeptiert das Urteil ebenso wie die Staatsanwältin, den Antrag auf Aufschub stellt Geppl gleich mündlich im Saal. (Michael Möseneder, 29.12.2020)