Der Extremismusexperte Lorenzo Vidino (links) und der Soziologe Mouhand Khorchide (rechts) spielten schon bei der Eröffnung der Dokumentationstelle neben Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) eine besonders öffentlichkeitswirksame Rolle.

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Als sollte es im Weihnachtstrubel untergehen, trat die von der Regierung initiierte Dokumentationsstelle Politischer Islam just am Tag vor dem 24. Dezember erstmals mit einer Publikation in Erscheinung. Auf der neuen und noch recht leeren Webseite der Stelle wurde das erste Grundlagenpapier veröffentlicht, das sich dem "politischen Islam" anhand der Muslimbruderschaft annähern soll – es wirkt wie eine inhaltliche Untermalung der Razzia gegen angebliche Mitglieder der Islamistengruppe in Österreich, die am 9. November stattfand.

Geschrieben wurden die etwas mehr als 40 Seiten in Zusammenarbeit mit zwei Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats der Stelle. Dessen Leiter, der Soziologe Mouhanad Khorchide, eröffnet mit jenem Teil, der erstmals einen Einblick in das geben soll, was die Dokustelle unter "politischem Islam" versteht. Dies nicht zufällig: Kritiker monierten, dass der Begriff zu vage sei. Von humanistischen bis zu radikalen Bewegungen ließe sich darin alles verpacken, die Gefahr eines Generalverdachts gegen alle Muslime ist die Befürchtung.

"Schleichende Übernahme"

Im Papier heißt es nun, dass mit "politischem Islam" nicht jedwedes politische Mitgestalten der Gesellschaft durch Muslime – motiviert durch ihren Glauben – gemeint sei, sondern solche Ansinnen, die sich gegen Rechtsstaat, Menschenrechte, Pluralismus und die individuelle Freiheit richten. Das heißt, "wenn der Islam dazu instrumentalisiert wird, die Gesellschaft aktiv zu polarisieren, Macht auszuüben, Herrschaft zu legitimieren". Als Beispiele dienen Fälle, in denen islamistische Gruppierungen eine "schleichende Machtübernahme" unter Ausnutzung des bestehenden Rechtssystems anstreben oder in Form einer "Scharia-Polizei" die Religionsausübung von Menschen kontrollieren oder sogar erzwingen.

Im Gegensatz dazu sei nicht jede Form religiös motivierten Tuns in der Gesellschaft problematisch, wenn sich Muslime etwa angelehnt an die christliche Sozialethik für Umweltschutz, Frauenrechte oder für Bedürftige einsetzen, heißt es im Papier.

Der Soziologe Kenan Güngör, der ebenfalls im Beirat der Dokustelle sitzt, sieht den Begriff differenziert. In der Fachwissenschaft sei er etabliert, wiewohl er dort kontrovers diskutiert wird. Allerdings sei das Dumme, erklärt Güngör, dass die Bezeichnung abseits davon in der öffentlichen Debatte zu Missverständnissen einlädt. Der Experte hält die Sorge zum Teil für durchaus berechtigt, dass sich hier Teile der Muslime zu Unrecht mitgemeint fühlen. "Das kann kritisch hinterfragt werden", sagt Güngör, der lieber von religiös motiviertem Extremismus spricht.

Deshalb wollte die Dokustelle den Begriff präzisieren. Als Problem komme aber hinzu, dass es unter Muslimen eine zweite Gruppe gebe, die "semantische Uneindeutigkeit" strategisch nutze. "Sie können zwanzigmal definieren, was Sie mit politischem Islam meinen, diese Gruppe wird den Begriff bewusst missverstehen. Sie werden es immer als Islamfeindlichkeit, Generalverdacht und Marginalisierung auslegen und versuchen, mit der Erzählung, Opfer einer sich anbahnenden Repression zu sein, die Meinungsführerschaft zu übernehmen", sagt Güngör.

Weiterhin zu vage

Cengiz Günay kann der Analyse wenig abgewinnen. Der stellvertretende wissenschaftliche Leiter des Österreichischen Instituts für internationale Politik findet den Begriffsteil des Grundlagenpapiers "äußerst schwach". Die wissenschaftliche Debatte über den politischen Islam sei sehr schmal ausgefallen. Abgesehen davon kritisiert er den Zugang der Stelle.

"Das Ergebnis, dass man es hier mit etwas zu tun hat, das die demokratische Grundordnung stört, steht hier schon am Anfang", sagt Günay. "Die Stelle setzt damit eine Norm, und dann wird geschaut, was man da findet – das ist kein offener Zugang. Man hat das Gefühl, dass es der Stelle darum geht, ihre Daseinsberechtigung zu erläutern." Der Begriff ist Günay noch immer zu vage. "Religion ist sehr bald politisch, wenn es um ihren Platz in einem säkularen Raum geht", führt er aus. "Ist es schon politisches Christentum, wenn im Parlament gebetet wird? Das Politische nur dem Islam zuzuschreiben halte ich für verfehlt."

Die Stelle gilt jedenfalls als ein Prestigeprojekt des Integrationsministeriums. Es ist anzunehmen, dass sich die Regierung an den Ausführungen orientieren wird. Der Begriff wird in den nächsten Jahren vermutlich eine noch stärkere Rolle spielen – sowohl in integrationspolitischen als auch in sicherheitspolizeilichen Diskursen. (Vanessa Gaigg, Jan Michael Marchart, 29.12.2020)