Beim Umgang mit den katastrophalen Zuständen auf Lesbos kracht es zwar zwischen ÖVP und Grünen. Die Kanzlerpartei gibt nicht nach und sperrt sich weiter gegen die Aufnahme notleidender Menschen

Foto: APA/Neubauer

Die Grünen würden ja gerne Familien aus den griechischen Elendslagern nach Österreich holen, doch die ÖVP weigert sich. Ohne ÖVP geht es auch nicht, weil es nicht einmal für die Aufnahme eines einzigen Kindes aus Lesbos eine parlamentarische Mehrheit gibt. Folglich könne man nur versuchen, in der ÖVP selbst einen Meinungsumschwung zu erzeugen – bis dahin müsse man die Linie der dominanten Kanzlerpartei mittragen. So in etwa lautet seit Monaten die grüne Rechtfertigung dafür, dass keine Menschen aus Moria und Kara Tepe geholt werden. Gleichwohl scheint ein Fruchten der Überzeugungsarbeit bei der türkisen Führungsriege äußerst unrealistisch, daran ändern auch Forderungen kirchlicher Kreise und widerspenstige Wortmeldungen einiger ÖVP-Regionalpolitiker wenig.

Doch nutzen die Grünen überhaupt all ihre Hebel, um Kurz und Co zum Einlenken zu bringen? Immerhin, meinen Kritiker, könnten die Grünen dem großen Koalitionspartner im Ministerrat mit Vetos drohen und auf diese Weise Druck aufbauen. Darauf angesprochen wiegelte Vizekanzler Werner Kogler zuletzt im ZiB 2-Interview ab: Realpolitisch sei das nicht so einfach und ohne Mehrheit in Sachen Aufnahmepolitik auch nicht zweckmäßig. Hat Kogler recht?

Regierung muss einstimmig beschließen

Tatsächlich gilt im Ministerrat Einstimmigkeit. Weitgehend unbemerkt wurde dieses Prinzip in der ersten Corona-Welle explizit in der Verfassung verankert, davor galt es als eine Art ungeschriebenes Verfassungsrecht. Regierungsbeschlüsse brauchen jedenfalls den Konsens aller Ministerinnen und Minister, das grüne Regierungsteam – oder sogar ein einziges Regierungsmitglied – könnte trotz zahlenmäßiger Dominanz der ÖVP deren Vorhaben blockieren.

Historisch gesehen sind derartige Aktionen sehr selten, aber es gab sie: Im Jahr 2000 legte sich etwa der damalige Innenminister Ernst Strasser auf Geheiß der niederösterreichischen ÖVP wegen des Baus des Semmeringtunnels quer. In der Praxis braucht man das Veto aber meist schon deshalb nicht, weil man innerhalb der Koalition bereits im Vorfeld klarmachen kann, dass man bei einem Beschluss nicht mitgehen würde. Das Thema kommt dann gar nicht erst auf die Tagesordnung, solange es in der Regierungskoordination keine Einigung gibt.

Ändern schwer, verhindern leichter

Im Fall Kara Tepe haben die Grünen freilich den Nachteil, dass gar kein Regierungsbeschluss nötig ist, um keine Menschen aus Griechenland zu holen. "Der Status quo bestimmt extrem stark die Verhandlungsmacht: Zum Ändern braucht es immer beide Parteien, zum Verhindern muss nur eine Partei ablehnen, dann bleibt es, wie es war", erläutert der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik.

Allerdings liegen in der Regierungsarbeit stets dutzende Pläne zugleich auf dem Tisch, die ihrer Umsetzung harren. Ein Abtauschgeschäft, bei dem die Grünen hinter den Kulissen mit einer Blockade anderer Regierungsprojekte drohen, um die starre Asylpolitik aufzuweichen, wäre also möglich. Der Experte sieht einen Haken: "Die ÖVP ist in vielen Bereichen mit dem Status quo zufrieden, das senkt die Verhandlungsmacht der Grünen, die mit dem Status quo oft unzufrieden sind."

Kurz fehlen Alternativen

Am aussichtsreichen wäre ein Deal, bei dem die ÖVP ein Prestigeprojekt unbedingt rasch durchbringen möchte und die Grünen daher dringend bräuchte. Das jüngst präsentierte Anti-Terror-Paket wäre womöglich in diese Kategorie gefallen, zudem stehen die meisten Verschärfungen nicht im Regierungsprogramm, wodurch eine Blockade nicht den Geruch eines Koalitionsbruchs hätte. Hier haben es die Grünen jedoch vorgezogen, in der Sache selbst zu verhandeln und die grundrechtlich tiefgreifendsten türkisen Pläne à la "Präventivhaft für Gefährder" zu vereiteln.

Die nächste Eskalationsstufe, um Druck in der Koalition aufzubauen, wäre die Drohung mit dem Koalitionsende. Für Kanzler Kurz kein bequemes Szenario, denn ihm fehlen die plausiblen Alternativen: Mit der SPÖ will und kann er partout nicht; ein zweites Mal mit einer unberechenbaren FPÖ wäre ein massives Risiko, die blaue Corona-Verharmlosung kommt als Hindernis aktuell noch dazu. "Solange die Pandemie andauert, hätte die Bevölkerung wohl auch überhaupt kein Verständnis für ein Koalitionsende. Die Grünen können sich also einiges an Widerstand leisten, ohne dass die ÖVP abspringt", meint Politologe Ennser-Jedenastik.

Grüne Erträge unsicher

Was dagegen spricht, ist der Zeitplan des Koalitionsprogramms: Die ökologische Steuerreform samt CO2-Bepreisung soll nämlich erst gegen Ende der Legislaturperiode stehen. Der inhaltlich wichtigste Ertrag der Grünen aus der Regierungsbeteiligung liegt also in der Zukunft, das macht ein allzu provokantes Auftreten in der Zwischenzeit schwierig.

Wobei ohnehin fraglich ist, ob nach der finanziell belastenden Pandemie noch viel vom ökologischen Großprojekt übrig bleibt – unabhängig vom grünen Verhalten in der Koalition. Die künftigen Argumente von Wirtschaftskammer und ÖVP gegen "neue Belastungen" nach der Corona-Wirtschaftskrise liegen schon auf der Hand. Trotz zähneknirschender Akzeptanz der rechten Asylpolitik steht die Umsetzung der grünen Kerninhalte beim Klimaschutz mithin noch in den Sternen. "Die Pandemie friert viele Konflikte ein", sagt der Politologe, doch "nach dem Abflauen dürften sie umso stärker ausbrechen." Dann müssten die Grünen trotz prekärer Bedingungen eines knappen Staatsbudgets Erfolge liefern, sonst könne man auch der eigenen Basis den Sinn der Koalition kaum mehr erklären. (Theo Anders, 30.12. 2020)