Obdachlosigkeit hat viele Ursachen. In Finnland sollen die Menschen als Allererstes einen eigenen Wohnraum bekommen.

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Als wäre der Alltag nicht schon mühsam genug, kam für viele obdachlose Menschen in diesem Jahr auch noch die Corona-Pandemie hinzu. Das bedeutete: weniger Spenden von Passanten, weniger Arbeitsplätze, weniger leistbarer Wohnraum und die Gefahr, sich mit dem Virus zu infizieren. Hilfsorganisationen warnen bereits davor, dass sich obdachlose Menschen insbesondere in den Unterkünften und Notschlafstellen in diesem Winter vermehrt anstecken könnten, da es oft an Platz und Hygienemaßnahmen fehle.

Einige Länder und Städte haben bereits gegengesteuert: In Brüssel öffneten Hotels, die mangels Touristen leerstanden, ihre Zimmer für rund tausend Obdachlose. Die Niederlande investierten rund 50 Millionen Euro zusätzlich für besonders gefährdete Gruppen wie obdachlose Menschen.

Immer mehr Obdachlose in Europa

Viele Helfer und Experten befürchten jedoch, dass die Hilfen nicht sehr langlebig sein und nichts an dem langfristigen Trend zu mehr Obdachlosigkeit ändern könnten. Einigen Studien zufolge ist die Zahl Obdachloser in der EU in den letzten zehn Jahren um 70 Prozent gewachsen, 700.000 Menschen sind derzeit obdachlos.

Nicht zuletzt deshalb ist die Suche nach langfristigen und zukünftigen Lösungen mehr denn je gefragt. Kaum ein Land findet dabei mehr Beachtung als Finnland. Während in dem Land nach offiziellen Angaben 1980 noch 20.000 Menschen obdachlos waren, verringerte sich diese Zahl bis 2020 auf 4.600.

"Housing First"-Konzept

Das Erfolgsrezept hinter der Entwicklung liegt für viele Organisationen, Helfer und Experten in einem Programm, das die finnische Regierung als "Housing First" bezeichnet. Die Idee: Jeder hat das Recht auf einen Ort zum Wohnen, unabhängig davon, ob man psychische, physische, finanzielle oder Alkoholprobleme hat.

Das ist der umgekehrte Weg zu dem, den viele andere Länder einschlagen: Dort müssen Obdachlose zunächst beweisen, dass sie sich auf einem Weg der "Besserung" befinden, zum Beispiel indem sie Entzugsstationen besuchen oder Anti-Gewalt-Programme absolvieren. Erst dann dürfen sie auf eine eigene Wohnung hoffen – ein Weg, der viele Jahre dauern und von ständigen Rückschlägen geprägt sein kann.

Keine Voraussetzungen

Bei "Housing First" hingegen soll die Wohnung als Basis für die Reintegration dienen und ohne besondere Voraussetzung zur Verfügung stehen. "Wenn eine Person ein Dach über dem Kopf hat, fällt es leichter, sich auf andere Probleme zu konzentrieren", heißt es auf der Website der Y-Foundation, einer Institution, die das finnische "Housing First"-Modell mitentwickelt hat und mehr als 17.000 Wohnungen in dem Land vermietet.

Die Idee des "Housing First" geht auf erste Programme des Psychologen Sam Tsemberis in New York in den 1990er-Jahren zurück, der Wohnraum als Ausgangspunkt der Hilfe betrachtete. In Finnland wird das Konzept seit 2007 systematisch angewandt und von der Regierung gefördert: indem neue Wohnungen gebaut, gekauft und billig vermietet werden sowie Sozialarbeiter staatlich gefördert werden.

Geldersparnis

Seither wurden mehr als 7.000 Wohnungen im Land an Obdachlose vermittelt. 270 Millionen Euro wurden für den Bau, den Kauf und die Renovierung von Wohnungen ausgegeben. Die Wohnungen haben meist ein bis zwei Zimmer. Die Bewohner zahlen die Miete selbst und werden bei Anträgen oder Problemen von Sozialarbeitern unterstützt. Sofern sie die Miete nicht zahlen können, gibt es weitere staatliche Unterstützungsleistungen.

Das alles kostet viel Geld. Aber weit weniger als die Kosten, die durch Obdachlosigkeit entstehen, heißt es von der Y-Foundation. Denn umso weniger Menschen sich in Notsituation befinden, desto weniger Verletzungen, gesundheitliche Probleme und Zusammenstöße mit der Polizei gebe es. Das wiederum spare Kosten im Justiz- und Gesundheitswesen und bei den Sozialstationen. Obdachlosen Menschen ein permanentes Dach über dem Kopf zur Verfügung zu stellen könne jedes Jahr bis zu 15.000 Euro pro Person sparen, so die Organisation.

80 Prozent behalten die Wohnung

Den langfristigen Erfolg von "Housing First" wollen die Behörden und beteiligten Wissenschafter bereits nachgewiesen haben: Vier von fünf Personen bleiben in der geförderten Wohnung, einige leben bereits seit vielen Jahren dort. Jene, die aussteigen, etwa weil sie die Miete nicht bezahlen können oder wieder bei Freunden unterkommen, können jederzeit wieder um eine Wohnung ansuchen und werden dann bei Bedarf wieder unterstützt.

Dass das Projekt in der Hauptstadt Helsinki zu funktionieren scheint, wo rund die Hälfte der obdachlosen Menschen in Finnland leben, begründen einige Experten auch mit der staatlichen Wohnpolitik. Die Stadt besitzt 60.000 Sozialwohnungen, eine eigene Baufirma und jährliche Ziele zur Erweiterung des Wohnraums. In jedem Stadtteil soll eine Mischung aus verschiedenen Wohnangeboten dabei helfen, die soziale Segregation zu verhindern. 25 Prozent sind Sozialwohnungen gewidmet, 30 Prozent subventionierte Wohnungen und 45 Prozent für den Privatsektor reserviert. Zudem wurde kräftig in Sozialarbeiter investiert, die von Räumungen betroffene Mieter rechtzeitig unterstützen sollen.

Programme auch in Österreich

Auch andere Länder und Städte haben in den letzten Jahren mit "Housing First"-Programmen experimentiert. In Belgien, Dänemark, Frankreich und den Niederlanden gibt es bereits seit einigen Jahren solche Programme. In Wien testete das Neunerhaus drei Jahre lang ein "Housing First"-Modell. 97 Prozent der 131 betreuten Personen konnte laut Angaben der Sozialorganisation ein dauerhafter Wohnsitz vermittelt werden. Aber auch die Caritas und das Vinzidach in Salzburg setzten bereits auf das Modell.

In Finnland ist man in der Umsetzung allerdings schon einen Schritt weiter. Bis 2027 soll es in dem Land keine obdachlosen Menschen mehr geben. Zudem soll das Programm dabei helfen, die Gesundheit und soziale Inklusion obdachloser Menschen dauerhaft zu verbessern.

Kein Allheilmittel

Allheilmittel ist "Housing First" deshalb aber keines. Nicht alle Menschen schaffen es, die Wohnung dauerhaft zu behalten. Es gibt auch keine eindeutigen Nachweise, dass das Programm den Zugang zum Arbeitsmarkt für die betroffenen Personen erleichtert.

Nichtsdestotrotz steigt in vielen Ländern Europas das Interesse an dem Konzept, nicht erst seit Corona. Die Pandemie könnte den Bedarf an neuen Modellen und Ideen für die Zukunft nun aber noch einmal deutlich erhöhen. (Jakob Pallinger, 30.12.2020)