Dem selbstlosen Verhalten von Hermann Franz Müller war es zu danken, dass der letzte Pestausbruch in Wien nur drei Opfer forderte. Eines davon war er selbst.

Foto: gemeinfrei

Es geht in diesem Tatsachenroman um eine Tragödie, die sich im Oktober 1898 in Wien zutrug. Das Manuskript wurde 1938 verfasst, das Buch erschien zunächst 1939 in polnischer Übersetzung und 1948 in einer überarbeiteten Version auch im deutschen Original. Sein Autor Stefan Pollatschek (1890–1942) war da schon einige Jahre lang tot. Unzeitgemäßer geht es kaum, möchte man angesichts dieser nackten Jahresangaben meinen. Dennoch ist Pollatscheks Roman "Pest" von hoher Aktualität.

Das ist auch der Grund, warum dieses lange vergessene Buch eines fast ebenso lange vergessenen Autors vor kurzem wiederaufgelegt wurde. Heutig ist der Roman vor allem wegen der darin abgehandelten Themen: Seuchenbekämpfung war anno 1898 (auch damals schon mit Selbstisolierung, Maske, Desinfektion, Abstand halten) nicht so viel anders wie 2020. Zudem gab es ähnliche mediale und politische Begleiterscheinungen. Schließlich ist das Buch 2021 auch noch deshalb lesenswert, weil es sich en passant mit dem Antisemitismus Karl Luegers befasst, der erst kürzlich wieder mit seinem Denkmal in die Schlagzeilen geriet.

Die Pest ist mehr als die Krankheit

So wie in Albert Camus’ metaphysischem Roman "Die Pest" geht es auch in "Pest" von Pollatschek, der 1942 im britischen Exil starb, um mehr als nur um die gefährliche Infektionskrankheit (damalige Sterblichkeit der mit der Lungenpest Infizierten: rund 80 Prozent). Während die Pest bei Camus als Metapher wahlweise für das Böse, den Krieg und den Nationalsozialismus gelesen werden kann, gegen die Solidarität not tut, ist Pollatschek konkreter: Die Pest, das ist auch der Antisemitismus, der ihn 1938 aus Wien vertreiben sollte.

Was die beiden Pest-Romane außerdem noch unterscheidet: Pollatschek hält sich bei seiner fast nur in flotten Dialogen gehaltenen Schilderung der Ereignisse im Oktober 1898 weitgehend an die historischen Fakten, die kürzlich auch Gegenstand einer medizinhistorischen Abhandlung wurden – ähnlich wie im Roman erwähnte und ebenfalls antisemitisch grundierte Affäre um den Embryologen Samuel Leopold Schenk, die ebenfalls 1898 ihren Höhepunkt erreichte.

Panik vor einer Epidemie in Wien

Die Beinahe-Pestkatastrophe ging auf eine Expedition junger Wiener Mediziner der Uni Wien zurück, die 1897 ins pestverseuchte Bombay (heute: Mumbai) reisten und Kulturen des Pesterregers mitnahmen, um in Wien damit bakteriologische Experimente durchzuführen. Diese Forschungen fanden unter der Leitung des erst 32-jährigen Mediziners Hermann Franz Müller im "Pestzimmer" des anatomisch-pathologischen Instituts statt, wo sich der Labordiener Franz Barisch im Oktober 1898 bei Versuchstieren mit der tödlichen Krankheit ansteckte.

Barischs Infektion wurde zunächst falsch diagnostiziert, und so bestand die erhebliche Gefahr, dass er bei seiner Behandlung im AKH andere Menschen infiziert haben könnte. Dennoch blieb der Pestausbruch auf zwei weitere Personen – Müller selbst und die junge Krankenpflegerin Albine Pecha– beschränkt, was dem umsichtigen Handeln des Mediziners zu verdanken war, der dafür posthum mit einem Ehrengrab am Zentralfriedhof und mit einem Denkmal im (mittlerweile alten) AKH geehrt wurde.

Das Denkmal für Hermann Franz Müller, das 1899 im Hof 9 des (alten) AKH errichtet wurde.
Foto: Linda Erker

Müller, der Barisch aufopfernd gepflegt hatte, isolierte sich mit Pecha umgehend im neuen Isolationspavillon des wenige Jahre zuvor eröffneten Kaiser-Franz-Josef-Spitals (heute: Klinik Favoriten), das auf Infektionskrankheiten spezialisiert war. Die beiden erlagen wenige Tage später der Lungenpest und waren damit die letzten Pestopfer in Österreich. Doch eine Epidemie in Wien konnte dank Müller verhindert werden – auch wenn in den damaligen Zeitungen tagelang Fake News über weitere Infektionen und Tote zirkulieren, woran auch Pollatschek in seinem Roman erinnert.

Die Pest des Antisemitismus

Antisemitische Blätter wie das "Deutsche Volksblatt", das vom (deutschnationalen) christlich-sozialen Politiker Ernst Vergani herausgegeben wurde, nützen die Vorfälle zudem für eine Kampagne gegen jüdische Mediziner, die natürlich auch der Geschäftemacherei bezichtigt wurden. Auch Karl Lueger und andere Christlich-Soziale stimmten in die antisemitisch motivierte Kritik an den Zuständen der medizinischen Fakultät ein, obwohl kein einziger jüdischer Wissenschafter an den Pestexperimenten beteiligt war.

Das Relief am Sockel des Denkmals zeigt den Römer Marcus Curtius, der sich mit seinem Pferd opferte, um einen bedrohlichen Abgrund am Forum Romanum wieder zu schließen.
Foto: Linda Erker

Pollatschek schrieb den Roman, der 1948 unter dem Titel "Dozent Müller. Die Tragödie eines Wiener Arztes" erschien, unmittelbar vor dem "Anschluss" 1938, der ihn – als Linker und Jude – zur Flucht aus Wien zwang. Seine Botschaft ist auch für heutige Leserinnen und Leser offensichtlich: Er wollte anhand der Geschehnisse 1898 darauf hinweisen, dass für die Pest des Antisemitismus in Österreich nicht zuletzt die Christlich-Sozialen und Lueger mitverantwortlich waren.

Diese Behauptung hat gewiss ihre Berechtigung. Ein gewisser Makel des flott erzählten, aber sprachlich doch etwas gealterten Romans ist allerdings, dass Pollatschek den Antisemitismus der Christlich-Sozialen mit Zitaten illustriert, die nur zum Teil so 1898 rund um die Pestvorfälle fielen. Nicht wenige der von Pollatschek kolportierten Aussagen wurden in anderen Zusammenhängen getätigt, und einige davon waren der damaligen Pressepolemik geschuldet.

Fehlende Quellenkritik

So etwa unterstellte die "Arbeiter-Zeitung" dem "Deutschen Volksblatt" folgendes Zitat im Zusammenhang mit der Pestaffäre: "Zumeist sind es jüdische Ärzte, die sich im Suchen und Züchten von Bazillen hervortun. Eine Anzahl von selbstverständlich jüdischen Ärzten hat sich zu einer Art Geheimbund zusammengetan, um durch Experimente mit den Erregern der verschiedenartigsten Krankheiten sich zu wissenschaftlichen Kapazitäten zu machen, um dann die für sich gemachte Reklame in Gold umzusetzen."

Stefan Pollatschek, "Pest. Die Tragödie eines Wiener Arztes", € 21,– / 290 Seiten. Verlag der Theodor-Kramer-Gesellschaft, Wien 2020
Verlag der Theodor-Kramer-Gesellschaft

Genau diese Passage findet sich auch in Pollatscheks Roman (Seite 123). Das Problem daran: Auch wenn diese Zeitung den Pestausbruch nachweislich antisemitisch "rahmte", wie man heute sagen würde, waren diese Sätze in diesem konkreten Wortlaut im "Deutschen Volksblatt" so nicht zu lesen, wenn auch recht ähnlich. Sprich: Die Redaktion ging in ihrer Berichterstattung etwas "subtiler" vor, als ihr von der AZ unterstellt wurde, wenn auch nicht sehr.

Gewiss, in einem Roman sind literarische Freiheiten und Zitate ohne Quellennachweis nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Doch wenigstens das umfangreiche und sonst instruktive Nachwort Alexander Emanuelys hätte eine solche Quellenkritik schon leisten dürfen. (Klaus Taschwer, 29.12.2020)