"Der Tod ist nichts, was uns vereinzelt und individualisiert, sondern etwas, was uns verbindet, was wir miteinander teilen", sagt Philosoph und Kulturwissenschafter Thomas Macho.

Klaus Fritsche, Köln

Seine Forschung berührt die Krise in vielen Punkten. Mit dem Tod hat sich Thomas Macho ebenso auseinandergesetzt wie mit Science und Fiction. Gerade wurde er als Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften mit Sitz in Wien und Linz verlängert. Die Pandemie wird dort noch lange Thema sein.

STANDARD: Noch vor wenigen Jahren haben Sie gefordert, es müsse Schluss mit den ewigen Dystopien sein und die Kulturproduktion solle wieder mehr positive Utopien hervorbringen. Worin sind wir jetzt gelandet? In einer Dystopie mit utopischer Aussicht auf Rettung?

Macho: Im Moment herrscht gewiss eine dystopische Stimmung. Zugleich kann man aber auch genau sehen, woran Yuval Noah Harari in Homo Deus erinnert: Vor mehr als fünf Jahrhunderten beschrieb Dürers Holzschnitt der apokalyptischen Reiter die aktuelle Lage. Welche ungeheuren Fortschritte wurden seither erzielt? Und wieso nehmen wir sie nicht wahr? Unsere Erzählungen zielen immer wieder darauf ab, dass etwas schiefgeht und misslingt. Warum sind wir so wenig bereit, Positives wahrzunehmen?

STANDARD:Aber war nicht die Dystopie-Verliebtheit in Film und Literatur der letzten Jahre nicht nur prophetisch, sondern sogar sehr realistisch?

Macho: Es ist verblüffend, denn uns allen kommt das düstere, apokalyptische Ende der Geschichte seit Jahrzehnten realistisch vor. Aber stimmt das? Es gab eine Zeit, da war alle Welt überzeugt davon, dass sich die Menschheit in einem Atomkrieg selbst auslöschen wird. Auch wenn wir zwar manchmal großes Glück gehabt haben, ist es doch erstaunlicherweise bisher gut gegangen. Diese Erzählung ist aber nicht so populär. Es sieht also so aus, als würden wir Erzählungen faszinierender finden, die eine düstere Stimmung ausdrücken, eine Art von tiefem Nihilismus.

STANDARD: Seit Aristoteles wissen wir, dass das Drama den Schrecken braucht, um Mitleid zu erregen.

Macho: Natürlich. Geschichten, in denen alles schön und gut läuft, sind nicht interessant und fesselnd. Aber es muss nicht alles auf ein dystopisches Finale hinauslaufen, es kann ja auch ein Problem zu einer besseren Lösung führen. Da könnte die heutige Kulturproduktion stärker ansetzen. Spannend finde ich auch Versuche, wo mehrere mögliche Lösungen einer Geschichte angeboten werden. Ich denke beispielsweise an Ferdinand von Schirachs Theaterstücke, die am Ende dem Publikum die Entscheidung überlassen.

STANDARD: Sie haben schon am Beginn der Pandemie beruhigt und gemeint, dass wir, verglichen mit der Pest oder der Spanischen Grippe, heute viel glimpflicher davonkommen. Der langfristige Lerneffekt aus der Krise für Wissenschaft und Gesellschaft ist ja tatsächlich enorm.

Macho: Eigentlich ist es unglaublich! Vor gut 100 Jahren, während der Spanischen Grippe, wussten die Wissenschafter nicht einmal, was Viren sind. Und heute wissen wir innerhalb von Monaten, wie dieses Virus funktioniert, wie seine genetische Struktur aussieht und wie es bekämpft werden kann.

STANDARD: Wappnet uns das für die Zukunft?

Macho: Da bin ich mir sehr sicher. Die Erfahrungen, die jetzt gesammelt wurden, sind von unschätzbarem Wert für den Umgang mit künftigen Pandemien und Krisen.

STANDARD: Wie stehen Sie zur Philosophie des Transhumanismus, die von großem Optimismus gegenüber technischem Fortschritt beseelt ist?

Macho: Da bleibe ich skeptisch. Denn hinter vielen trans- und posthumanistischen Ansichten versteckt sich eine Art Gestaltwandel, wo eine Dystopie heiter und fröhlich zur Utopie erklärt wird. Wenn etwa nur noch von künstlich erzeugten Superintelligenzen die Rede ist, muss man beinahe hoffen, dass die Gattung Homo sapiens überhaupt noch weiterleben darf und nicht ausgerottet wird.

STANDARD: Sie haben sich kulturphilosophisch mit dem Sterben beschäftigt. Wie wird Corona unseren Blick auf den Tod verändern?

Macho: Unsere Sterbekultur ist seit längerem einem positiven Wandel unterworfen. Der Umgang mit dem Tod wird sukzessive enttabuisiert. Doch geht es bei der Sterbebegleitung viel um Kontakt, um Berührung. Einsam Sterbende auf den Intensivstationen zeigen uns dagegen, welche Sterbekultur in früheren Zeiten einmal geherrscht hat. Bei Begräbnisritualen kann man digitale Formen der Anteilnahme vielleicht in Zukunft stärker ausbauen, aber einen Sterbeprozess begleiten, das kann man nicht per Zoom. Vielleicht wird Corona auch zu einem weniger angsterfüllten Umgang mit der eigenen Endlichkeit führen. Man müsste mit dem alten Pathos des Existenzialismus brechen und sagen: Der Tod ist nichts, was uns vereinzelt und individualisiert, sondern etwas, was uns verbindet, was wir miteinander teilen.

STANDARD: Wird die Pandemie die Ästhetik, die Kunst beeinflussen?

Macho: Sicherlich. Es kann sein, dass die Künste stärker reflektieren werden, wie wir uns an Dinge erinnern, wie wir sie bewahren und musealisieren. Auch dabei geht es ja um den Umgang mit der Endlichkeit. Vielleicht wird das Konzept des Festivals in einem anderen Licht erscheinen. Die Fragen nach der Regulierung von Nähe und Distanz werden uns auch in den Künsten noch länger faszinieren.

STANDARD: Alltagskulturell sind romantische und biedermeierliche Tendenzen wieder stark geworden: die aufgezwungene Häuslichkeit, die massenhafte Wiederentdeckung der heimischen Natur. Wird sich das auch längerfristig halten?

Macho: Was sich verändern wird, ist unser Mobilitätsverhalten. Die Frage, die uns aktuell dauernd gestellt wird, ob diese oder jene Reise wirklich notwendig ist, werden wir uns zunehmend selbst stellen. Vielleicht werden alte Texte von Romantikern wiedergelesen, und vielleicht werden wir häufiger wandern. Aber an eine Wiederkehr der Romantik und des Biedermeier glaube ich deswegen nicht. Ich wünsche mir vielmehr eine Form der reflektierten Rationalität, die selbst aus Fehlern der Aufklärung noch zu lernen vermag.

STANDARD: Hat sich in der Kunst und Ökoprotestkultur nicht ein neues "Zurück zur Natur" seit Jahren angekündigt? Verstärkt das Corona?

Macho: In neueren Kunstwerken kann ich – ebenso wie in der Bewegung zum Klimaschutz – wenig von der Sehnsucht "zurück zur Natur" erkennen. Gerade in den letzten Jahren wurde nämlich klar, dass Natur nicht nur als Titel für biedermeierliche Nostalgie fungieren kann, sondern dass sie auch bedrohlich wird, gerade weil sie gefährdet ist. Es geht nicht nur darum, Natur zu schützen, sondern auch darum, Schutz vor der Natur zu suchen. Das war immer notwendig, sonst hätten wir nicht so lange überlebt.

STANDARD: Die ökologische Wende besteht also nicht allein im Verzicht, sondern auch im Vertrauen auf den technischen Fortschritt?

Macho: Das sehe ich schon so. Vieles vom Konzept "Zurück zur Natur" ist heute nicht mehr sinnvoll und praktikabel. Es wird nur mit der Technik, nicht gegen sie gehen.

STANDARD: Welche Utopien sollten nach Corona sonst noch zur Verwirklichung gelangen?

Macho: Zunächst die Abschaffung von Armut, mithilfe der inzwischen beinahe altehrwürdigen Utopie des Grundeinkommens. Wir haben gerade gesehen, was sogar kurzfristig möglich ist. Potenzial steckt auch in der Veränderung unserer Beziehungsstrukturen und Liebeskulturen. Man hat lange abschätzig von Patchwork-Familien gesprochen, dabei könnten sie, richtig praktiziert, geradezu ideale Familien bilden. Denn, wie gesagt: Wir teilen unsere Sterblichkeit und Verletzlichkeit mit allen Lebewesen auf diesem Planeten. Vielleicht könnte sich aus dieser Erfahrung ein utopisches Gemeinschaftsgefühl entwickeln. (INTERVIEW: Stefan Weiss, 31.12.2020)