Die Gebetsstunde im Advent war geschichtsvergessen und gefährlich, kritisiert der SPÖ-Abgeordnete Thomas Drozda im Gastkommentar.

Einer der vier "Rossebändiger" vor dem Parlament in Wien – Symbole für die Zügelung der Emotionen im Hohen Haus.
Foto: APA / Roland Schlager

Vor dem Parlamentsgebäude stehen die vier Rossebändiger. "Die Rossebändiger des Parlamentsgebäudes werden als Symbol für die Bezähmung der Leidenschaften beziehungsweise Zügelung der Emotionen gedeutet. Sie stellen somit einen unübersehbaren Appell an die Abgeordneten dar, im Hohen Haus ihre politischen Leidenschaften zu mäßigen", steht auf der Parlament-Homepage zu lesen. Im Hohen Haus sollte man rund um Fragen der Religion lieber einmal zu oft als zu selten in die Zügel greifen.

"Neben Freiheit und Toleranz zeichnet den säkularen Staat vornehme Zurückhaltung aus."

Die Weihnachtszeit gilt als Zeit der Besinnung. Sie soll eine Zeit der Ruhe, der Stille, der Einkehr sein. Für viele Menschen in unserem Land ist sie auch die Zeit des Gebets. Gerade in schwierigen Zeiten gibt das Gebet zahlreichen Menschen Kraft und Halt. In unserem Land beten Gläubige vieler Religionen, in vielen Sprachen, zu vielen Festen und vielen Anlässen. Die Betenden stehen gleichberechtigt neben jenen, die ihre Kraft nicht aus dem Glauben, sondern aus anderen Quellen schöpfen. Die liberale Demokratie zwingt niemandem einen Glauben auf und stellt sicher, dass die Menschen frei sind in der Ausübung ihrer Religion oder Weltanschauung. Neben Freiheit und Toleranz zeichnet den säkularen Staat vornehme Zurückhaltung aus. Er strebt eine möglichst vollständige Neutralität gegenüber allen Religionen und Weltanschauungen an.

Stadt-Land-Konflikt

Der Weg zu religiöser Toleranz im Geiste der Aufklärung war für Österreich ein steiniger. Dabei begann es doch so vielversprechend: Bei seiner Eröffnung 1883 war das Parlamentsgebäude Sitz des ersten multinationalen Parlaments der Welt. Eines "Völkerbunds im Kleinen", wie es Karl Renner einmal nannte. Doch der Vielvölkerstaat zerbrach und tat seine letzten Atemzüge auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. Danach waren der Demokratie zunächst nur ein paar Jahre gegönnt. Immer stärker wurde der Gegensatz zwischen der katholisch geprägten Bevölkerung auf dem Land und der sozialdemokratischen Arbeiterschaft in den Städten.

1934 kam es zum Bürgerkrieg. Die christlich-sozialen Sieger regierten den Ständestaat diktatorisch. Die katholische Kirche stand ihnen dabei zur Seite. Gerade der Austrofaschismus lehrt ein gesundes Misstrauen gegen jede Form des politischen Katholizismus. Das Parlament sollte erst 1945 seine Pforten wieder öffnen. Nach Jahren des Krieges, des Terrors, der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und den Gräueln der Shoah nahmen Demokratie, Parlamentarismus und Republik vor 75 Jahren einen neuen Anlauf. Das war möglich, weil Staatsmänner und -frauen beider großen politischen Lager Gräben überwanden. Damals war das gemeinsame Gebet ein Symbol der Versöhnung. Allerdings schritten Leopold Figl und Karl Renner dazu in die Peterskirche und bewusst nicht ins Parlament. Sie gingen mit gutem Beispiel voran und wiesen der Zweiten Republik damit den Weg zu Kooperation und Toleranz. Wir sollten über alle politischen Lager und weltanschaulichen Differenzen hinweg wissen, was wir an diesem österreichischen Weg haben, und ihn nicht leichtfertig über Bord werfen.

Überparteiliches Amt

Daher ist die Gebetsstunde konservativer, bibeltreuer und erzkatholischer Glaubenseiferer im Parlament geschichtsvergessen und gefährlich. Es ist ein Zeichen für das Wiedererstarken des politischen Katholizismus. Es bereitet eine Politik vor, wie wir sie in Polen und anderen Ländern erleben. Was so beginnt, führt zu bitteren Enden: dem Ende von Frauenrechten, dem Ende von LGBTIQ-Rechten, dem Ende von Rechten unehelicher Kinder und dem Ende von Toleranz und Miteinander.

Alle Nationalratspräsidentinnen und -präsidenten der Zweiten Republik folgten bisher der Usance, ihr Amt überparteilich auszuüben. Dass Wolfgang Sobotka damit bricht, passt gut zu dem ramponierten Bild, das er insgesamt abgibt. Zugutehalten muss man ihm, dass er sein reaktionäres politisches Gedankengut offen zur Schau stellt. Wer aber weiterhin in einer liberalen Demokratie im Geiste der Aufklärung leben will, muss hoffen, dass dem Mann endlich jemand die Zügel abnimmt. (Thomas Drozda, 31.12.2020)