Von weitem glitzert es verheißungsvoll, fast weihnachtlich in der Landschaft. Doch wer sich dem Feld mit den Lichtpegeln nähert, blickt direkt ins Elend, des wohl größten Migrationsdesasters, das sich derzeit in Europa abspielt. Hunderte Migranten sind seit Mittwochnachmittag wieder der Nässe und Kälte ausgeliefert. Denn die etwa 900 jungen Männer, die ab Dienstag in zwanzig Bussen eingesperrt in der Nähe des abgebrannten Camps Lipa ausharrten, wurden von der Polizei wieder zurück in das aufgelassene Lager eskortiert. Dort haben sie nur ein paar schäbige Plastikplanen zur Verfügung. Einige Container stehen hier noch herum, aber diese sind nicht zum Schlafen, sondern als Waschgelegenheiten und als Toiletten aufgestellt worden.

Leidtragende eines politischen Machtspiels: Weil Lokalpolitiker sich gegen die Zentralregierung stellen, saßen die Migranten in Bussen fest.
Stephan von der Deken

Niemand hier in Bosnien-Herzegowina hat einen Plan für die Zukunft der 900 Männer, die im Niemandsland in Westbosnien feststecken. Die Regierung ist mit den Migranten in eine Krise geschlittert. Denn bislang hat sich keine bosnische Stadt, kein Dorf bereit erklärt, die Afghanen und Pakistaner aufzunehmen, die im schweren Winter im Freien nicht überleben können.

Proteste gegen Migranten

Nach wochenlangen Verhandlungen war es am Dienstag zunächst zu einem politischen Durchbruch gekommen. Endlich fand man eine Kaserne in der Nähe der Stadt Konjic, wo man die Migranten hinbringen wollte. Und diese dachten, dass sie nun nicht im Schlamm und im Regen das neue Jahr beginnen müssten.

Die Evakuierung begann plangemäß, doch dann stellten sich die bosnisch-kroatischen Minister quer, weil das Dorf Gradina, wo die Kaserne für Migranten steht, in einem Kanton liegt, in dem die bosnisch-kroatische HDZ regiert. Ein paar Bürger versammelten sich zudem vor der Kaserne, als sie Wind davon bekamen, dass die Migranten kommen sollten und protestierten. Der bosnische Sicherheitsminister Selmo Cikotić konnte sich nicht gegen die Lokalfürsten durchsetzen.

Leidtragende eines Machtspiels

Sie sind einem Machtspiel ausgeliefert, das Tag für Tag an Absurdität und Ausweglosigkeit gewinnt. Für die Menschen hier, die zu den Leidtragenden dieser Politik werden, ist dies alles undurchschaubar. Schon seit Wochen verweigern bosnische Politiker, zu einer Lösung beizutragen und gefährden damit Menschenleben.

Menschen saßen Stunde um Stunde abfahrbereit im Bus, durften aber nicht losfahren.
Foto: Stephan von der Deken

Vertreter der Internationalen Organisation für Migration (IOM) versorgen die Leute, die krank sind und verteilen Essenspakete. Viele Migranten haben bereits die letzten Tage im Schnee und im Freien verbracht und sind sichtlich erschöpft. Unklar ist, ob einige auch an Covid-19 erkrankt sind.

Der IOM-Leiter in Bosnien-Herzegowina Peter Van der Auweraert ist sichtlich verzweifelt. Er versucht gemeinsam mit der EU-Kommission seit Wochen eine Lösung zu finden, um die Migranten vor dem Kältetod und Ansteckungen zu schützen. Auch am Mittwoch gab es eine Regierungssitzung, die allerdings ohne Ergebnis blieb.

Schwacher Zentralstaat

"Jetzt wird alles noch schwieriger. Denn nun haben alle im Land gesehen, dass man nur dreißig, vierzig Demonstranten braucht, um zu verhindern, dass die Migranten untergebracht werden", sagt er zu dieser Zeitung. "Jedes Dorf kann das nun nachahmen und die Umsiedlung der Migranten verhindern." Dabei gäbe es ausreichend Kasernen, um den Leuten Schutz zu bieten, moniert er. Doch der umkämpfte Zentralstaat in Bosnien-Herzegowina zeigt sich gerade in der Migrationskrise als viel zu schwach, um sich durchzusetzen.

Die Polizei bewacht die Busse auf dem Feldweg.

Die Umsiedlung der Migranten war notwendig geworden, weil vor Weihnachten das Lager Lipa, etwa 25 Kilometer außerhalb von Bihać geschlossen werden musste, um es winterfest zu machen. Die großen Zelte können nämlich der Schneelast nicht standhalten. Doch die Behörden hatten sich geweigert, die Halle Bira in der Stadt, die jahrelang als Migrationszentrum gedient hatte, wieder für die obdachlos gewordenen Migranten zu öffnen. Aus Verzweiflung darüber, zündeten einige Migranten die Zelte in Lipa an. Manche verblieben dicht gedrängt im letzten übrig gebliebenen Zelt.

"Wir sind Muslime und ihr auch!"

Hilfsorganisationen warnen davor, dass die Migranten in der Kälte und im Schnee schwer krank werden oder sogar sterben könnte. Doch viele Bürger von Bihać, die seit Jahren unter der Migrationskrise leiden, wollen nicht, dass die Migranten in die Stadt in die Halle Bira zurückkehren. Aber es gibt auch andere, die ein großes Herz zeigen.

Vor einem der Abbruchhäuser, einem einsturzgefährdenden Betonskelett am Rande der Stadt, in denen Dutzende Pakistaner im Schutt, in der Nässe und im Dreck hausen, steckt eine Frau mit zwei kleinen Kindern it den Migranten zwanzig bosnische Mark zu und legt ihre Hand zum Zeichen auf ihr Herz. Zehn Euro sind in Bosnien viel Geld. "Wir sind Muslime und ihr auch", sagt sie zu Nizra, einem 30-jährigen Mann, der vor wenigen Tagen aus dem Lager Lipa hierher gekommen ist.

Kälte in der Nacht

"Ich weiß nicht, wo wir nun hingehen sollen. Es gibt kein Lager für uns, keine Unterkunft", sagt Nizra. Die Männer, die in den Abbruchhäusern leben, schöpfen sich Wasser aus dem Fluss Una. Hunderte andere lagern außerhalb der Stadt auf den Feldern. "In der Nacht wird es jetzt schrecklich kalt", erzählt etwa der 21-jährige Mohammed aus Peshawar. Um zu ihrem Lager zu gelangen, muss man durch Regenpfützen, durch Gestrüpp durch.

In Abbruchhäusern in Bihać hausen dutzende Migranten im Dreck ohne Heizung und Wasser. Sie suchen Schutz vor Nässe und Kälte.
Stephan von der Deken

Mohammed und seine Freunde leiden unter juckenden Hautinfektionen. Weil die kroatische Grenzpolizei den jungen Männern vor vier Tagen, als sie versuchten über die Grenze zu kommen, die Schuhe wegnahm, stehen sie nun mit nackten Füssen in Plastikschlapfen im Schlamm. Sie bräuchten vor allem eine Powerbank, um ihr Handy aufzuladen und Mehl, um sich in dem verrußten Topf Brot zu machen, erzählen sie.

Keine Möglichkeit, zu überwintern

Jenseits von den Gestrandeten in Lipa leben 1000 andere Migranten hier im Kanton Una-Sana im Freien oder in Abbruchhäusern. "Hier können wir nicht überwintern", räumt der 26-jährige Ali ein, der schon seit 2016 versucht von Bosnien-Herzegowina aus, nach Kroatien, in die EU zu gelangen. 50 Mal ist er bereits hinauf in die Berge gewandert, wurde aber immer von den Grenzern erwischt. Ali spricht mittlerweile ausgezeichnet Bosnisch. "Wir warten auf den Frühling", antwortet er auf die Frage gibt, wie es nun weitergehen könnte. (Adelheid Wölfl aus Bihać, 30.12.2020)