Foto: Cross Cult, Bahoe Books, Reprodukt
Foto: Cross Cult, Bahoe Books, Reprodukt
Multifaktorelle Leseerlebnisse: David Bowie, die Beatles und Tocotronic in neuen Graphic Novels zum Nachlesen.
Foto: Cross Cult, Bahoe Books, Reprodukt

Es war George Martin, der den Songtitel der Beatles All You Need Is Love in All You Need Is Ears abgewandelt hat. Einer, der es wissen musste. Als Produzent bei Parlophone brauchte er vor allem ein feines Ohr. Doch nicht nur das: Als die Beatles Mitte der 1960er von den Konzerthallen in die Studios wechselten, wurde er zusammen mit Toningenieur Geoff Emerick zum experimentierfreudigen Mitspieler bei den Plattenaufnahmen mit Soundüberblendungen, Stimmverzerrungen, Rückwärtsläufen u. v. m. Die Abbey-Road-Studios waren ein Laboratorium, in dem eine ganze Revolution der Popmusik ausgetragen wurde.

Im vergangenen Jahr ist eine Reihe bemerkenswerter Comics erschienen, die sich der Popgeschichte von den Beatles über Cass Elliot und David Bowie bis Tocotronic widmen. Die unterschiedlichen Her angehensweisen und ästhetischen Mittel erlauben ebenso spannende Einblicke in zeitgeschichtliche Phänomene der Popmusik wie in ein Medium der Populärkultur, das in derselben Gegenkultur wurzelt.

Michels Mabels, Gaet’s, "Beatles". Aus dem Englischen sowie mit einem Nachwort von Walter Famler. € 25,– / 224 Seiten. Bahoe Books, Wien 2020

Der von Michels Mabels und Gaet’s herausgebrachte Band Beatles erzählt in 24 Episoden die Geschichte der erfolgreichsten Band des 20. Jahrhunderts, die zwischen 1960 und 1970 die Popmusik neu erfunden hat. Ursprünglich auf Französisch erschienen, serviert der Band das Heldenepos in kleinen Häppchen mit hervorgehobenen Tafeln und Originalfotos und spannt einen facettenreichen Bilderbogen über das Jahrzehnt.

Letzteres ist auch den zwei Dutzend Comics geschuldet, die von wechselnden, vorwiegend aus Frankreich stammenden Zeichnern beigesteuert sind. Der Reiz der Variation wird durch den Umstand, dass die Infotexte teils mit den folgenden Comictexten übereinstimmen, allerdings gedämpft. Die Comics werden damit in die Rolle der Illustration gedrängt.

Dennoch steckt der Band mit seiner Begeisterung an. Erstaunt es doch nach wie vor, wie dieser "Chor der frechen Engelszungen" (Peter Handke) zum Aufschrei einer ganzen Generation werden und in den Zuckungen der Beatlemania eine bis dahin nie gesehene Form des Ausdrucks finden konnte.

Doch für die Band wie die Pop geschichte ist ihr Rückzug aus der Konzertöffentlichkeit in die erwähnten Studios von entscheidender Bedeutung, wo sie mit Alben wie "Rubber Soul" (1965), "Revolver" (1966) und "Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band" (1967) in neuem Glanz aufersteht, gleichermaßen verwandelt durch die Anwendung experimenteller Verfahren wie den Einfluss psychedelischer Erfahrungen.

Arne Bellstorf, "Baby’s in black. The Story of Astrid Kirchherr & Stuart Sut cliffe". € 24,70 / 224 Seiten. Reprodukt, Berlin 2020

Comics zu den Beatles gab es in der Vergangenheit mehrfach. Arne Bellstorfs Schwarz-Weiß-Comic "Baby’s in black" (2010) sticht dar unter hervor. Der deutsche Zeichner begrenzt sich auf die Zeit in Hamburg, wo Stuart Sutcliffe zusammen mit den Beatles die Kellerauftritte auf der Reeperbahn bestreitet.

Unbändige Leidenschaft

Sutcliffe verliebt sich in die Fotografin Astrid Kirchherr und bleibt bei ihr in Deutschland, als die Beatles nach Liverpool zurückkehren. Der bitterfrühe Tod des jungen Malers ist ein jäher Schock. Elvis Presleys "Love Me Tender" zwischen den Baumzweigen buchstabierend zeichnet Bellstorf in kohleartigen Strichen eine eindrucksvolle Geschichte zwischen Aufbruch und Melancholie.

Ebenfalls in Schwarz-Weiß, in kräftigen Bleistiftzeichnungen erzählt die französische Autorin Pénélope Bagieu in "California Dreamin’" die Geschichte von Cass Elliot (aka Ellen Cohen), auch als "Mama Cass" bekannt. "California Dreamin’" und "Monday, Monday" zählen vielleicht zu den berühmtesten Songs der Mitte der 1960er-Jahre entstandenen Band "The Mamas and the Papas", deren Mitbegründerin Elliot war. Mit ihren Hits hat die Musikgruppe die Flower-Power-Bewegung mit heraufbeschworen.

In einem Reigen wechselnder Per spektiven erzählen Figuren aus Elliots Umgebung, angefangen von ihrer Schwester und ihrem heiß geliebten Vater bis hin zu ihren künstlerischen Begleitern, die Geschichte einer unerschrockenen Frau, die mit Widerständen zu kämpfen hat.

Pénélope Bagieu, "California Dreamin’". Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. € 24,70 / 280 Seiten. Reprodukt, Berlin 2020

Bewusst bricht der Comic auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs ab, ohne den plötzlichen Tod der 32-Jährigen mit hereinzunehmen. Im Zentrum stehen dagegen zwei Aspekte: Cass Elliots unbändige Leidenschaft, mit der sie ihr Ziel, Sängerin, ein Star zu werden, verfolgt, sowie ihr Außenseitertum aufgrund ihrer körperlichen Erscheinung. Bereits in der Schule gehörte die übergewichtige Ellen oftmals nicht dazu – "das aber mit Bravour". Bagieu zeichnet ein Porträt voller Witz.

Etwa zur selben Zeit bringt David Jones, besser bekannt als David Bowie, sein Debütalbum heraus. Sind die 1960er-Jahre noch das Jahrzehnt der Beatles, sollten die 1970er-Jahre das Jahrzehnt des Verwandlungskünstlers Bowie werden. Bowie. Sternenstaub, Strahlenkanonen und Tagträume lautet der Titel eines Comics über Bowies Anfänge und Durchbruch als Ziggy Stardust.

Zeichner Michael Allred – bekannt für seine Serie "Madman" und seine Mitarbeit an Neil Gaimans "Sandman" – hat damit ein grafisches Kunstwerk geschaffen, das Bowies Inszenierung eines surrealen Alter Ego mit entsprechenden ästhetischen Mitteln als Comic umsetzt.

Michael Allred, Steve Horton, Laura Allred, "Bowie. Sternenstaub, Strahlenkanonen und Tagträume". Vorwort von Neil Gaiman. Aus dem Englischen von Michael Schuster. € 36,– / 160 Seiten. Cross Cult, Ludwigsburg 2020

Vor Ziggy Stardust war bereits Major Tom aus dem Song "Space Oddity" (1968) ein Alter Ego mit Ablaufdatum, denn er kehrt aus dem All nicht mehr zurück. Dennoch wurde der Song 1969 zur Mondlandung abgespielt. Interessanterweise haben auch die Beatles mit Sgt. Pepper und seiner "Lonely Hearts Club Band" ein fiktives Spiel mit dem Pu blikum getrieben.

Doch während sie in den Studios geblieben sind, zelebriert Bowie die reale Inszenierung und Theatralisierung seines Albums "The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars" (1972) als Herzstück seines Kunststreichs. Teil dessen ist die geplante Obsoleszenz seines alter Ego, Ziggy Stardust, eines exzessiv im Rausch sich verbrauchenden Popstars. Das Projekt endet folgerichtig – wie der letzte Titel des Konzeptalbums es ankündigt – mit einem Rock ’n’ Roll Suicide.

Nach dem Abschlusskonzert seiner Welttournee im Londoner Hammersmith Odeon entlässt Ziggy aka Bowie am 3. Juli 1973 tatsächlich überraschend seine Bandmitglieder. Verklammert mit Bowies Rollenspielinszenierungen ist schließlich seine Provokation einer sexuellen Mehrdeutigkeit, die er mit seinem öffentlichen Statement "Ich bin schwul" anspornte.

Allreds Comic stellt Bowies Einflüsse von Stanley Kubrick bis Andy Warhol und Velvet Underground dar. In surrealen Seitenkompositionen, in kontrastreichen Überblendungen und kaskadenartigen, in einandergreifenden Panelfolgen fangen Zeichner und Koloristin – Allreds Frau Laura – diese flackernde Epoche des Glam Rock ein.

Michael Büsselberg (Hg.), "Sie wollen uns erzählen. Zehn Tocotronic-Songcomics". € 25,70 / 128 Seiten. Ventil-Verlag, Berlin 2020

Einen Sprung in die Gegenwart und zurück auf die Reeperbahn macht der von Michael Büsselberg kuratierte Band "Sie wollen uns erzählen. Zehn Tocotronic-Songcomics". Die Hamburger Band Tocotronic gilt als eine der wichtigsten deutschen Bands des letzten Vierteljahrhunderts, aufgrund ihrer anspielungsreichen Songtitel auch als Lieblingsband der Intellektuellen.

Sie wollen uns erzählen

Deutsche Zeichnerinnen und Zeichner haben zehn Songs aus fünfundzwanzig Jahren ausgewählt und die Texte nach eigener Fasson als Comic umgesetzt. Das breite Spektrum ihrer Entstehungszeiten spiegelt sich in den Jahrgängen der Beitragenden, die zwischen 1968 und 1992 liegen.

Die vorwiegend in Farbe gehal tenen Comics wechseln von realistisch bis surreal, von erzählerisch bis experimentell und bieten eine beachtliche Bandbreite an Ausdrucksmitteln. "Sie wollen uns erzählen" ist zudem ein fein gewählter Titel: Der gleichlautende Song paraphrasiert ein Zitat des französischen Philosophen Gilles Deleuze über Kontrollgesellschaften.

Ironisch distanzierend lässt er sich auch auf Tocotronic selbst anwenden. In allen Fällen kann man sich auf eine synästhetische Hör-Lektüre einstellen. All you need is eyes and ears. (Martin Reiterer, ALBUM, 01.01.2021)