Es kommt zu viel zusammen: Wir müssen lernen, mit der Belastung umzugehen.

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Man möchte nicht 2021 sein. 2020 wird zumindest aus heutiger Sicht als Katastrophenjahr in die Geschichte eingehen. Für viele lautet die nicht zwingend rationale, aber hoffnungsstiftende Folgeprognose: 2021 wird besser werden. Ganz schön viel Druck für eine vom Menschen recht willkürlich eingeteilte Zeitspanne.

Und dann sind da noch die Besserungserwartungen, die wir an uns selbst stellen, gerne in Form von Neujahrsvorsätzen. 2021 wird das Jahr, in dem wir das Abstellkammerl in Ordnung bringen, Rechnungen am Tag des Einlangens bezahlen, bestellte Kleidung wirklich zurückschicken, wenn sie nicht passt, und ganz allgemein: unser Leben in den Griff bekommen.

Dieses Gefühl des Kontrollverlustes beschäftigt viele von uns. Doch die wenigsten reden dar über. Das sich türmende schmutzige Geschirr in der Küche oder die chaotische Sammlung wichtiger Dokumente, die nicht und nicht sortiert wird: Darüber sprechen wir nicht gerne. Eine unnötige, aber ungekündigte Versicherung ist kein gutes Gesprächsthema. Und: Es ist uns peinlich.

Denn der Anspruch ist da: der Anspruch, die Kontrolle zu behalten. Ein ordentlicher Haushalt, ein effizienter Umgang mit Geld, ein Überblick über wichtige Dinge. Das alles wird von uns erwartet – und das erwarten wir auch von uns selbst. So schwierig ist es ja nicht.

Es ist zu viel

Und dennoch haben viele von uns nach der Erziehungs- oder Lohnarbeit einfach keine Nerven oder keine Energie mehr, um abends auch noch den angeräumten Couchtisch zusammenzuräumen. Stattdessen beschließen wir, das Chaos zu ignorieren und, falls dafür überhaupt Zeit bleibt, eine schon fünfmal geschaute Serie zu schauen. Wohlfühlprogramm. Der Haken: Am nächsten Tag ist immer noch Unordnung, und wir haben ein schlechtes Gewissen: Warum habe ich es nicht erledigt? Warum schaffe ich das nicht?

Die Antwort ist einfach, aber nicht sozial erwünscht: Es kommt zu viel zusammen. Unsere Energie ist begrenzt, wir können uns nur mit einer begrenzten Menge an Unannehmlichkeiten an einem Tag auseinandersetzen. Die wichtigere Frage lautet: Warum denken wir überhaupt, den perfekt gemanagten Haushalt haben zu müssen? Warum ist es für uns nicht okay, Dinge in unserer Freizeit auch einmal schleifen zu lassen? Warum müssen wir funktionieren, damit wir uns gut fühlen?

Eine von vielen Antworten finden wir in den Medien, die wir konsumieren: Dort ist das alltägliche Scheitern kein Thema. Niemand postet seine unordentliche Dokumentenkiste auf Instagram, und die Küche der glücklichen Familie in der Werbung ist immer frisch geputzt. Wir fühlen uns allein mit dieser Last, mit dem schlechten Gefühl im Hinterkopf. Dabei ist das Phänomen viel weiter verbreitet, als wir es wahrnehmen – das weiß jeder, der mit Menschen redet, die sich professionell mit Sorgen und Ängsten auseinandersetzen.

Und dann ist da noch die Generationensache. Egal, wie alt man ist: Die eigenen Eltern haben in viel starreren Geschlechterrollen gelebt als man selbst. Die Frau war für Haushalt und Kinder zuständig, der Mann hat das Geld verdient. Die bittere Wahrheit lautet: Das Konzept des Vollzeitjobs war nie so konstruiert, dass Menschen daneben noch für sich und andere kochen, putzen und organisieren.

Überholte Rollenbilder

Rollenbilder für Männer und Frauen sind nach wie vor vorhanden, aber zum Glück viel schwächer ausgeprägt als früher. Immer weniger Frauen leben in ökonomischer Abhängigkeit von ihrem Partner, und das ist gut so. Doch bei zwei berufstätigen Erwachsenen in einem Haushalt hat oft keiner der beiden genug Luft, sich auch noch um die unbezahlte Arbeit zu kümmern, und sei sie noch so fair verteilt. Alleinstehende können sich den Brocken Arbeit, der sie zu Hause erwartet, nicht einmal aufteilen.

Und da reden wir noch nicht einmal von Corona: Die Pandemie hat ein weiteres Packerl in unsere Sorgenrucksäcke gesteckt. Wer dann noch erzählt bekommt, dass ein Lockdown die perfekte Zeit zum Produktivwerden sei (Brot backen! Basteln!), entfernt sich immer mehr vom gefühlten Anspruch an sich selbst.

Es gibt einen Trick. Wer sich selbst erlaubt, über manche Bereiche seines Lebens gerade keine Kontrolle zu haben, befreit sich vom schlechten Gewissen. Es ist okay, sein Leben nicht im Griff zu haben. Wer Dinge nicht verdrängt, sondern (auch nur vorläufig) akzeptiert, gewinnt Freiheit. Denn Sorgen sind Energiefresser. Erlauben wir uns, nicht ständig etwas zu leisten, nicht produktiv zu sein und nicht zu funktionieren.

Es gibt auch Neujahrsvorsätze, die uns nicht belasten. Zum Beispiel: In diesem Jahr achte ich mehr auf meine Bedürfnisse. In diesem Jahr überlege ich mir ganz genau, welche Ansprüche ich an mich stellen will. In diesem Jahr bin ich nicht zu streng mit mir. (Sebastian Fellner, 1.1.2021)


TIPPS, UM MIT DER BELASTUNG UMZUGEHEN

Andere ins Boot holen Es ist oft der schwierigste Schritt, aber auch einer der effektivsten: Hilfe holen. Schon ein einfaches Gespräch kann entlastend sein. Wenn Scham da ist, rät Silvia Breitwieser zu anonymen Angeboten wie der Telefonseelsorge (142). Allein schon Gedanken auszusprechen helfe vielen enorm, sagt Breitwieser. Auch der eigene Freundeskreis kann, sofern vorhanden, einbezogen werden: Psyllou sagt, man könne gute Freunde auch einladen, um Dinge gemeinsam zu erledigen. Alternativ könne man ankündigen: "Beim nächsten Besuch wirst du sehen, dass ich das erledigt habe."

Den Leidensdruck hinterfragen Die Wiener Psychotherapeutin Marie Psyllou rät bei Überforderung, "die Perspektive zu ändern". Es könne helfen, sich selbst einige Fragen zu stellen: Was ist das Schlimmste, das mir passieren würde, wenn ich es jetzt nicht gleich erledige? Was hätte ich davon? Wie würde ich die Sache sehen, wenn ich in fünf Jahren daran zurückdenke? Oft sei es nötig, Unerledigtes vorerst hinzunehmen und sich einen Horizont einzuräumen, sagt Silvia Breitwieser, Leiterin der oberösterreichischen Telefonseelsorge: Vielleicht sei der nächste Sommer "eine Zeit, wo ich das wieder hinbekomme".

Auf den eigenen Akku achten Wer am Ende eines Tages völlig ausgepowert ist, kann versuchen, "über den Tag verteilt zu schauen, dass der Akku nicht total in der roten Zone ist", sagt Breitwieser. Da kann schon ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft in der Mittagspause helfen. Überhaupt betont sie die Bedeutung von Bewegung. Und: ausreichend Schlaf, sofern irgendwie möglich. Klingt banal, hilft aber. Genauso wie Entspannungsübungen, die auch in den Büroalltag integrierbar sind. Ein paar Minuten bewusst und langsam zu atmen kann wie ein Reset-Knopf für die Nerven wirken.

Große Aufgaben aufteilen Einen Elefanten essen wir Stück für Stück, nicht auf einmal", lautet der Leitspruch Psyllous für große Herausforderungen. Soll heißen: Was überwältigend auf uns wirkt, ist leichter zu bewältigen, wenn man es in kleinere Aufgaben aufteilt. Das chaotische Abstellkammerl etwa kann in Sektionen unterteilt werden, die man sich Tag für Tag, eines nach dem anderen, vornimmt. Wenn es ums Ordnung machen geht, müsse auch nicht alles sofort seinen endgültigen Platz finden, sagt Psyllou: Es reiche oft fürs Erste, zwei oder drei Kategorien zu definieren, in die man Dinge aufteilt.