Nur wenige Meter liegen zwischen dem Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London und jenem Bezirksgericht, das vor zehn Jahren die Auslieferung von Julian Assange an Schweden anordnete. Die Vorwürfe der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung zweier Schwedinnen gegen den Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks sind inzwischen verjährt. Dennoch hat Assange seine Freiheit bisher nicht zurückerlangt: Seit 20 Monaten wartet er in Belmarsh, wo ebenfalls das Coronavirus ausgebrochen ist, in Isolationshaft neuerlich auf die Entscheidung, ob er ausgeliefert wird. Diesmal an die USA. Ab 11 Uhr MEZ soll am Montag das Urteil über das US-Auslieferungsansuchen verkündet werden.

Bild nicht mehr verfügbar.

Julian Assange wurde am Montagmorgen im Gefängniswagen zum Old Baily Strafgericht gebracht.
Foto: Reuters

Vorwurf des Geheimnisverrats

Die USA haben Assange wegen Verstößen gegen das Spionagegesetz angeklagt. Im Fall einer Verurteilung drohen ihm bis zu 175 Jahre Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis. Die Anklageschrift besagt, Assange habe US-Militärdatenbanken gehackt, die Daten veröffentlicht und damit viele Menschenleben riskiert. Beweise, dass durch die Veröffentlichung Leben in Gefahr waren, wurden nie vorgebracht. Der Australier und seine Anwälte wehren sich: Er sei ein Journalist, der US-Kriegsverbrechen ans Licht gebracht habe.

Doch um diese Vorwürfe geht es am Montag in London eigentlich nicht: Laut Auslieferungsvertrag zwischen den USA und Großbritannien muss die zuständige Richterin weder die Anklage noch die Beweislage evaluieren. Vanessa Baraitser muss lediglich feststellen, ob es sich bei dem Inhaftierten tatsächlich um Assange handelt, ob das Vergehen auch in Großbritannien geahndet werden könnte und ob es mögliche humanitäre und menschenrechtliche Einwände gegen die Auslieferung gibt.

Seit Februar argumentieren seine Anwälte vor Gericht, dass Assange von den USA politisch verfolgt werde und daher nicht ausgeliefert werden dürfe. Zudem sei er depressiv, habe Halluzinationen und sei wegen Suizidgedanken in Lebensgefahr. Laut Berichten wurde den Anwälten zudem der Zugang zu ihrem Klienten während der Verhandlungen erschwert.

Menschenrechtskonvention

Auch der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, hat wiederholt Alarm geschlagen: Assange sei seit zehn Jahren willkürlich in Haft und dort psychischer Folter und unwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt. Auch in den USA sei vor dem Militärgericht kein rechtsstaatliches Verfahren zu erwarten. Melzer warnte gar, dass Assange dort zu Tode gefoltert werden könnte.

Sollte Baraitser keinen Widerspruch zwischen einer Auslieferung und seinen Menschenrechten sehen, ist zu erwarten, dass Assanges Team Berufung einlegt. Der Fall könnte so in letzter Instanz vor dem Europäischen Menschenrechtsgericht landen, dem die Briten trotz Brexits angehören. Zum Jahreswechsel mahnte Deutschland nach jahrelangem Schweigen in der Causa Großbritannien zur Einhaltung der Europäischen Menschenrechtscharta. In Hinblick "auf das mögliche Strafmaß und die Haftbedingungen" und den Gesundheitszustand Assanges sei das Königreich an die Konvention gebunden, so das deutsche Außenamt. Diese untersagt etwa eine Auslieferung von Personen, denen eine lebenslange Haft ohne Aussicht auf frühzeitige Entlassung droht.

Palin für Assange

Sogar ehemalige Widersacher Assanges stellen sich nun hinter ihn: "Julian, es tut mir leid", sagte kürzlich die Republikanerin und ehemalige US-Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin. Sie hatte den Wikileaks-Gründer einst als "anti-amerikanischen Aktivisten mit Blut an den Händen" bezeichnet und gefordert, dass man ihn wie einen Al-Kaida-Führer verfolge. Er verdiene eine Begnadigung, findet sie nun. Zuletzt hatten sich die Gerüchte verdichtet, dass US-Präsident Donald Trump noch beabsichtige, Assange zu begnadigen. Dafür gibt es bisher keine Hinweise, so Assanges Anwalt, Edward Fitzgerald, auf STANDARD-Nachfrage. Stella Moris, die Partnerin von Assange und Mutter seiner beiden Kinder, gehört zu jenen, die Trump angesucht haben. Stattdessen begnadigte der Präsident vor Weihnachten etwa vier Söldner der US-Armee, die im Irak Zivilisten ermordet hatten.

Mit Joe Biden übernimmt am 20. Jänner ein Mann das Weiße Haus, der Assange einst als "Hightech-Terroristen" bezeichnete. Dennoch erhoffen sich viele von ihm größere Chancen auf eine Begnadigung. Sein Vorgänger bei den Demokraten, Ex-Präsident Barack Obama, hatte Chelsea Manning die Haft erlassen. Die Whistleblowerin hatte Wikileaks 2010 hunderttausende geheime Militärdokumente zukommen lassen. Das bekannteste Video zeigt US-Soldaten, die aus einem Hubschrauber irakische Zivilisten erschießen.

Angriff auf die Presse

Eine Begnadigung anzunehmen beinhaltet auch ein Schuldeingeständnis. Wikileaks-Chef Kristinn Hrafnsson und viele Verfechter von Assanges Freilassung fordern, dass die Anklagepunkte von US-Seite gänzlich fallengelassen werden. Die Tatsache, dass sie überhaupt erhoben wurden, komme schon einem Angriff auf die Pressefreiheit gleich, so Hrafnsson. (Flora Mory, 4.1.2021)