Premier Boris Johnson beteuert: Die Schulen sind sicher. Doch die mächtige Lehrergewerkschaft fordert deren Schließung.

Foto: AFP / Justin Tallis

Unter dem Druck rasch steigender Corona-Infektionsraten müssen englische Schulen ihre Planung fürs neue Jahr komplett umstellen. Besonders für den Großraum London verändert der konservative Bildungsminister Gavin Williamson die Richtlinien beinahe täglich. In der Metropole kämpfen die Krankenhäuser mit einer Welle von Covid-19-Kranken, die inzwischen über den Höchststand im April 2020 hinausgeht. Schon fordert die mächtige Lehrergewerkschaft (NEU) die Schließung aller staatlichen Schulen für mindestens zwei Jännerwochen. Die Regierung verhalte sich "rücksichtslos" gegenüber der Gesundheit der Lehrerschaft sowie der gesamten Schulgemeinschaft, glaubt NEU-Chefin Mary Bousted. Hingegen beteuert Premier Boris Johnson: "Schulen sind sicher."

Die Nachrichten im Kampf gegen Sars-CoV-2 klingen zunehmend verzweifelt. "Wir haben viel mehr Patienten als im März und April", berichtet Professor Marcel Levi, Leiter des University-College-Klinikkomplexes in der Londoner Innenstadt. Auch vor anderen Spitälern in und um London stauen sich die Ambulanzen, weil nicht genug Betten zur Verfügung stehen. Vermeidbare Operationen sind weitgehend abgesagt.

Hochinfektiöse Mutation

Landesweit lagen die Neuinfektionen in der Woche bis zum Neujahrstag im Durchschnitt täglich bei 45.559 – und damit um ein Drittel höher als in der Vorwoche. Dafür machen Fachleute vor allem die hochinfektiöse Mutation B117 des Coronavirus verantwortlich, die im Großraum London sowie in der Grafschaft Kent erstmals im September 2020 auftrat. Für die Infizierten besteht nach bisherigen Erkenntnissen weder die Gefahr eines schwereren Krankheitsverlaufs noch ein höheres Todesrisiko.

Widersprüchliche Angaben gab es zur stationären Behandlung von Minderjährigen in Krankenhäusern. Sie habe "eine ganze Station von Kindern und Jugendlichen mit Covid-19" zu betreuen, berichtete die Londoner Oberschwester Laura Duffell der BBC. Die Vereinigung der Kinderärzte sowie führende Intensivmediziner in der Hauptstadt mochten jedoch einen Anstieg der Zahlen bei schwererkrankten Kindern nicht bestätigen.

Hohe Todeszahlen

Die Gesamtzahl der an den Folgen einer Coronainfektion Verstorbenen lag bis Freitag bei 74.125; im Durchschnitt der vergangenen Woche starben täglich 561 Covid-19-Patienten. Pro Million Einwohner sind inzwischen 1.096 mit einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben (in Österreich 695); europaweit gab es anteilig nur in Belgien, Italien und Spanien mehr Tote zu beklagen.

Die erfahrene Oberschwester einer Intensivstation vor den Toren Londons zieht den Vergleich mit der ersten Corona-Welle im Frühjahr: Auch damals sei ihre Station mit Covid-19-Patienten komplett ausgelastet gewesen. "Es gab aber viel weniger Krankheitsfälle beim Personal." Warum das diesmal anders ist? "Weil vor Weihnachten die Schulen geöffnet waren."

Tatsächlich hat die konservative Regierung unter Premier Boris Johnson die staatlichen Schulen lang zur Priorität erklärt und Zweifler mit Statistiken unter Druck gesetzt: Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien leiden am stärksten unter der Schließung ihrer Bildungseinrichtungen.

Intransparente Kriterien

Im November zwang Minister Williamson den Labour-regierten Londoner Stadtbezirk Greenwich mit der Androhung gerichtlicher Schritte dazu, die dortigen Primarschulen offenzuhalten. Drei Tage später wurden sie dann doch geschlossen. Unter dem Eindruck der neuen Infektionswelle muss der unglücklich agierende Politiker beinahe wöchentlich, zuletzt sogar binnen 48 Stunden, zurückrudern.

Am Mittwoch kündigte Williamson an, Sekundarschüler vom siebenten Schuljahr an müssten im Jänner mit Onlineunterricht vorliebnehmen. Die Regierung wollte aber eine Vielzahl von Primarschulen offenhalten, darunter auch in zehn Londoner Bezirken.

Die Kriterien dafür, warum beispielsweise im Osten der Hauptstadt der Bezirk Tower Hamlets (wöchentliche Infektionsrate: 1.041) seine Schüler aussperrt, das angrenzende Hackney (810) aber den Unterricht wie gewohnt organisieren sollte, blieben undurchsichtig. Empört fragten die Labour-Chefs stark betroffener Verwaltungseinheiten wie Haringey (915) und Greenwich (819), warum Tory-Bezirke mit viel weniger Infizierten die Schultore schließen, sie selbst aber den Betrieb aufrechterhalten sollten. Williamson gab nach: Am Montag bleiben sämtliche Lehranstalten geschlossen.

Neuer Impfstoff im Einsatz

Als Ausweg aus der schwierigen Lage preist die Regierung ihr Impfprogramm an. Im vergangenen Jahr haben bereits mehr als eine Million Briten die Immunisierung durch das Präparat der deutschen Firma Biontech und des US-Pharmagiganten Pfizer erhalten. Am Montag soll erstmals der Wirkstoff ChAdOx1 der Universität Oxford und der angloschwedischen Firma Astra Zeneca zum Einsatz kommen. (Sebastian Borger aus London, 3.1.2021)