Bild nicht mehr verfügbar.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel

Foto: Reuters

2020 war ein Jahr der außerordentlichen Krisen in Europa – Pandemie, wirtschaftliche Verwerfungen, Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und die Erpressungsmanöver polnischer und ungarischer Nationalisten mit der Vetodrohung gegen das EU-Budget. Es war die glückliche Fügung des Schicksals, dass in diesem beispiellosen Krisenjahr eine außerordentliche Persönlichkeit mit der größten Erfahrung und Autorität in der internationalen Politik als Bundeskanzlerin des wirtschafts- und einwohnerstärksten Mitgliedsstaates und zugleich für sechs Monate als Vorsitzende des Rates der 27 Staats- und Regierungschefs die wohl entscheidenden Weichen stellen durfte.

Trotz ihres Rücktritts als CDU-Vorsitzende bereits Ende Oktober 2019 und des angekündigten Abschieds als Kanzlerin nach der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2021 bewies Angela Merkel gerade angesichts der größten Herausforderung seit 1945 ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten als deutsche und europäische Führungspersönlichkeit. Statt die von manchen Beobachtern erwartete Rolle der "lahmen Ente" zu spielen, bestand sie die Mutproben als Krisenmanagerin sowohl in der deutschen wie auch in der europäischen Politik. So lange wie sie war niemand an der Regierungsspitze in der EU. Nach 15 Jahren als deutsche Bundeskanzlerin genießt sie unangefochtenes Ansehen in Brüssel.

Gebrochenes Tabu

Noch vor der Übernahme der Ratspräsidentschaft durch die Bundesrepublik hatte Merkel das lange von Deutschland aufrechterhaltene Tabu der gemeinschaftlichen Schulden gebrochen und mit dem von ihrer Wende begeisterten Emmanuel Macron den 750 Milliarden schweren Wiederaufbaufonds im Zeichen einer wieder aufgelebten deutsch-französischen Achse als Hilfspaket für die von der Corona-Krise besonders hart getroffenen Mitgliedsstaaten durchgesetzt. Als krönender Abschluss einer turbulenten Präsidentschaft wird auch die in der letzten Minute mit der britischen Regierung abgeschlossene Brexit-Einigung und sogar das umstrittene Investitionsabkommen mit China gefeiert.

Ohne die europapolitische Bedeutung des Befreiungsschlags durch die Einigung der Staats- und Regierungschefs im Dezember auf das 1,8 Billionen Finanzpaket (siebenjähriges Budget und Corona-Hilfe) zu unterschätzen, werden die von der deutschen Bundeskanzlerin maßgeblich eingefädelten Vereinbarungen mit Polen und Ungarn über eine striktere Kontrolle der Geldflüsse wie auch das Abkommen mit China gerade zur Zeit der brutalen Menschenrechtsverletzungen in Hongkong auch als faule Kompromisse kritisiert. Die Macht über Recht bleibt in beiden Fällen unangetastet. Der Wertekonflikt, nicht nur mit Polen und Ungarn, sondern auch mit anderen EU-Staaten in einem Sumpf der Korruption, wie Bulgarien, Rumänien und Malta, dürfte sich auf die Dauer als unlösbar erweisen.

Bei den Debatten und Konflikten über das Prinzip der Einstimmigkeit in der EU sollte man statt der Heuchelei über die Wertegemeinschaft wieder die von vielen Beobachtern befürwortete Suche nach neuen flexiblen Modellen für einen harten Kern in der Eurozone und für andere Staaten lockere Bindungen über den Binnenmarkt und die Zollunion aufnehmen. (Paul Lendvai, 5.1.2021)